Der Krimi
Solothurn schreibt Geschichte | Ein Gemeinschaftskrimi und Solothurn Tourismus führt Regie
Solidarität hat Tradition in Solothurn. Wir bleiben gesund und zu Hause. Und schreiben Geschichte. Das Geschichten-Team liebt Solothurn und Krimis. Vor allem die Solothurn-Krimis von Christof Gasser. Das ganze Team arbeitet umsonst und nach Feierabend.
Teil 22 | Unheiliges Verschwinden
22. April 2020 | Autorin | Simone

«Hallo Andreas, so spät noch unterwegs?» Chefredaktor von Burg grinst. «Und du Jeff? Immer noch auf der Suche nach dem Füdlistein und der grossen Botschaft?» Von Burg ist weder an einer Antwort noch am weitern Geschehen interessiert und entfernt sich bestens gelaunt in Richtung Parkhaus. Jeffrey aber steht da wie angewurzelt, auf der Suche nach dem Füdlistein und nach Antworten. Er wollte diesen Solothurner Stein finden. Aber nicht, weil ihn die historische Leidenschaft treiben würde. Nein, bei ihm geht es um viel mehr: Es geht um seine Zukunft. Und seine Vergangenheit.
Der junge Historiker und Journalist ist wütend. «Warum nur habe ich mich auf diese abstruse Geschichte eingelassen? Ich bin zum Spielball uralter Geschichten geworden», ärgert sich Jeffrey. Er fühlt sich ausgenutzt und an der Nase herumgeführt. Er geht in seine Wohnung, um noch einige Stunden zu schlafen, bevor er in der Redaktion erwartet wird. Er hat diesen Job nur angenommen, um Solothurn kennenzulernen. Er wollte wissen, wo seine Mutter aufgewachsen war, wo sie ihre Kindheit, ihre ersten 20 Jahre verbracht hatte. «Aber das ist mir jetzt völlig egal. Ich brauche weder Geld, noch Wurzeln. Ich will nach Hause.»
«Doch wo ist mein zu Hause? Jetzt, wo sie nicht mehr lebt?» Jeffrey ist verzweifelt. Der wahre Grund seines Besuches verschwieg er. Auch die Botschaft, die er kurz nach der Beerdigung seiner Mutter erhalten hatte. «Komme nach Solothurn, lerne deine Familie kennen. Auch die deines Vaters», stand in einer E-Mail. «Seines Vaters!?» Jeffrey hatte doch mit André Affolter einen Vater.
Jeffrey erinnert sich an diesen Donnerstagabend am Hauptbahnhof in Solothurn: «Schön, dass wir dich endlich kennenlernen, hier ist der Schlüssel, du kannst gerne in einer unserer Wohnungen in der Altstadt wohnen», sagte sein Onkel. Kuno Studer hatte losen Kontakt zu seiner Schwester Dora in LA, mehr nicht. Er wusste zwar von Jeffrey und auch, dass ihr Mann André Affolter nicht sein biologischer Vater war. Das war ihm aber egal.
Jetzt scheint für Jeffrey alles bedeutungslos. Er hat weder den Füdlistein, noch Geld noch seinen Vater gefunden. «Zeit, nach Hause zu fliegen», schickt er seinem Onkel eine SMS. «Jeff, um Himmels willen, warum bist du um 3 Uhr morgens wach und willst nach Hause», antwortet Kuno Studer besorgt.
«Warum? Da fragst du noch?» Jeffrey bleiben die Worte im Hals stecken. «Kuno, ihr habt mich für eure Spielchen benutzt! Ich habe genug!» Jetzt hört Studer ein Schluchzen. «Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben … »
«Hör zu Jeff, die Geschichte ist kompliziert und aus den Fugen geraten! Aber glaub mir, wir sind auf der richtigen Spur. Bitte schlaf ein paar Stunden und dann treffen wir uns bei Alma zum Kaffee um 11 Uhr.»
«Ich muss arbeiten», sagt Jeffrey resigniert. «Von Burg übernehme ich. Mach dir keine Sorgen», entgegnet der altgediente Kommissar.
Tom Seiffert ist bereits beim zweiten Kaffee und summt. «Warum so früh am Morgen schon so fröhlich?» «Ach Alma, man muss einfach die kleinen Dinge im Leben geniessen!» «Ups, Glückskeks-Philosophien? Dafür ist es definitiv noch zu früh.» «Gut, dann komme ich zur Sache: Ich habe herausgefunden, wer diese Mar Besenval ist!»
«Wer bitte?», fragt Alma verdutzt. «Du weisst schon, diese schwerreiche Investorin, die diese Monstersiedlung «GreenSoul» baut. Dahinter steckt Mar Besenval und sie wird, jetzt halt dich fest, sie wird Solothurn als erste «smarte Barockstadt» zum Schweizer Hotspot für Touristen, Unternehmer und designaffine Schöngeister machen. Alma schaut immer noch ungläubig zu Seiffert. «Du hast recht gehört. Und Sie wird an der 2000-Jahr-Feier auch eine Festrede halten!»
«Was? Diese Mar Besenval will eine Festrede halten? Wie kommst du darauf?» «Wie wohl?», fragt Tourismusdirektor Seiffert. «Sie hat bereits zugesagt. Ich sag dir, Alma, diese Frau hat richtig viel Geld. Und sieht sehr gut aus.»
«Super!», sagt Alma noch und ist weg.
Jeffrey und Studer kommen gemeinsam und pünktlich bei Alma an. «Kaffee?» Beide wundern sich etwas über die schlechte Laune von Alma.
«Ihr könnt euch nicht vorstellen …», setzt Alma an, doch Studer unterbricht sie. «Es ist so Alma, Jeff braucht Hilfe und gute Freunde. Bitte keine erfundenen Geschichten mehr.»
«Dann lass mich endlich ausreden, Studer!» Und wenn sie Studer zu Kuno sagt, dann ist es ernst. «Also», versucht es Alma erneut, «Mona ist bereits mit unserer Idee zu Seiffert und hat sich als Investorin vorgestellt. Er weiss, dass sie Mar Besenval ist!»
Jeffrey schreckt auf: «Was ist los? Warum soll ich den Füdlistein finden und wer ist Mar Besenval?»
«Ich bin Maria Johanna Besenval, kurz Mar», sagt Mona beim Eintreten und setzt sich an den Tisch. Studer und Alma nicken. Mona erzählt ihre Geschichte, eine lange Geschichte. Jeffrey stellt viele Fragen, Mona antwortet. Er weiss nun, dass Mona während der Zeit an der Uni und in der autonomen Szene in Bern den Namen Mona Bader angenommen hatte. Zum 20. Geburtstag bekam sie ein sehr beachtliches Erbe ausbezahlt, das sie auf Ibiza investiert hat – ins Café del Mar. Noch in der Nacht, als Alma sie in Bern tödlich verunglückt, dachte, flog sie nach Ibiza. Und ab der Eröffnung des Clubs im Juni 1980, nannte sie sich fortan Mar Besenval.
«Und was hat diese alte, verrückte Geschichte mit mir, mit dem Füdlistein und mit Solothurn zu tun?»
«Das erzählen wir dir später!», sagt Alma ungeduldig. «Jetzt müssen wir den Füdlistein sehen, bevor er wieder auf dem Sockel steht, sonst war alles umsonst.» «Komm Jeff, es lohnt sich. Vertrau uns», sagen Mona und Studer gleichzeitig.
«Ja klar, euch vertrauen!» Jeffrey schüttelt den Kopf, geht aber mit.
Vor zwei Jahren, als Mona alias Mar Besenval alias Maria Johanna Besenval mit einer grossen PR-Agentur in Zürich Kontakt aufnahm – das Café del Mar feiert 2020 das 40-jährige Bestehen und wird mit dem Dokumentarfilm am Filmfestival ausgezeichnet – traf Mona die Agenturchefin Frau Dr. Thalbach in Zürich. Sie sprachen auch über das neue PR-Mandat «2000 Jahre Solothurn» der Zürcher Agentur. Da Mona als Solothurnerin nicht nur viel über die Barockstadt wusste, sondern dort auch ein sehr ansehnliches Stück Landreserve aus ihrem Erbe überbauen wollte, war sie an der Agenturchefin interessiert. Thalbach erzählte ihr, dass sie einen Meilenstein setzen wolle. Marketingmässig fehle Solothurn nur wenig zum internationalen Durchbruch. Thalbach wolle Solothurn als einen Hotspot für die hippe «History Tour Community» positionieren. «Tolle Idee, Frau Thalbach, aber da brauchen Sie eine richtig gute Story! Einen genialen Plan. Die Stadt muss über Wochen in den Medien sein – ohne Negativschlagzeilen», meinte Mona und begeisterte Frau Dr. Thalbach. Und dann ist Mona zu alter Höchstform aufgelaufen.
Dr. Thalbach gegenüber sicherte sie ihre Hilfe in der PR-Sache zu. Mona ging es aber in erster Linie um das Geheimnis des Füdlisteins, um ihre Grossprojekt «GreenSoul» und damit um 200 Wohneinheiten mit der smartesten und ökologischsten Infrastruktur, die die Schweiz je gesehen hat.
Der Plan war simpel: Der Füdlistein, Kościuszko und die Scherbe sollten von Dr. Thalbachs Leuten weggeräumt, in einer leeren Halle aufbewahrt, restauriert und nach drei Wochen, wenn die Medienpräsenz ausreichend gross ist, wieder platziert werden – unter den Augen der Öffentlichkeit. Doch Mona’s Plan war subtiler: Sie wollte den Füdlistein einen Tag früher wegbringen lassen, um ans Geheimnis des Steins zu kommen. Als Mona kam, war der Füdlistein aber schon weg. Jemand musste vom geheimen Dokument, das im Stein versteckt ist, gewusst haben. Das konnte nur Studer oder Alma sein. Um die beiden aufzuschrecken, hat Mona ein Berner Blogger hacken lassen, den Facebook-Eintrag gepostet und schon ging alles viral.
Der Füdlistein war tatsächlich in Interlaken. Allerdings waren nicht Studer oder Alma die Schuldigen, sondern Frau Dr. Thalbach. Sie wollte noch mehr Aufmerksamkeit. Sie war gieriger und schlauer als Mona gedacht hatte, und ausserdem wollte sie auch Interlaken in ihr Kundenportfolio aufnehmen.
«Hier ist Frau Dr. Thalbach, sind sie in Solothurn Frau Besenval?. Wir liefern gleich den Stein. Wenn sie vielleicht anwesend sein könnten?» Und ob sie anwesend sein wollte! Als der Stein noch am Kran in der Schwebe hing, konnten Mona, Studer und Alma endlich den Schlüssel zum Schliessbach aus dem Boden des Steins entfernen.
«Stehen alle Gegenstände wieder an Ort und Stelle?» «Ja», antwortet Dr. Thalbach Seiffert, «alles wie geplant! Sie können mit der Festrede beginnen!»
Er hält eine pointierte Rede, wird gefeiert und erscheint tags darauf mit Frau Dr. Thalbach in allen Zeitungen.
Nur Mar Besenval hat sich entschuldigt. «Wichtige geschäftliche Termine in Übersee!», lässt Seiffert ausrichten.
Und als sich Jeffrey, Alma und Studer mit Mona treffen wollten, um das Schliessfach zu öffnen, war sie schon wieder weg. Das Schliessfach war leer – und die mumifizierten Häupter der geköpften Stadtheiligen St. Viktor und Urs waren verschwunden.
Herzlichen Dank
Wir danken allen. Vor allem denen, die tagtäglich mitgeschrieben, mitgedacht und sich auf dieses Experiment eingelassen haben. Und natürlich den Gastautoren, die den Krimi belebt und unterstützt haben. Es ging nie darum, einen professionellen Krimi zu schreiben, es ging um Solidarität, um Unterhaltung in einer Zeit, die uns entschleundigt hat. Kein stringenter Plot, viele lose Enden – dafür umso mehr Freude an einem einmaligen Gesamtwerk.
Wir sind zu Hause geblieben und haben Geschichte geschrieben. Herzlichen Dank auch das Team der Solothurner Zeitung, das täglich die Textteile aufgeschaltet hat und ein grosses merci an den Chefredaktor Balz Bruder, der das Projekt unterstützte und mitschrieb.
Was bisher geschah ...
Teil 1 | Solothurn und der «Füdlistein»
26. März 2020 | Autorin | Simone Leitner
«Ich bin ganz sicher, die nächste Sehenswürdigkeit wird Sie erheitern. Mit dieser Steinskulptur drückten die Solothurner einst ihre zuweilen getrübte Sympathie zur südlich gelegenen und mächtigen Stadt Bern aus. Der Stein ist sehr wertvoll und daher hinter einem Eisengitter geschützt», sagt Alma Müller und lacht verschmitzt. Die Stadtführerin erzählt weiter, will ihre Gruppe von fünf Geschäftsfrauen schon mal mit der Solothurner Geschichte vertraut machen. So schlendern die sechs Damen von der Hauptgasse her zum berühmten «Füdlistein» Richtung Goldgasse. Früher, erklärt die Stadtführerin, hätten die Solothurner ab und an kleine Streitereien mit den Bernern gehabt. «Um diese zu ärgern, stellten sie den Füdlistein beim Berntor auf.» Die Stadtführerin hat die Legende rund um die Skulptur, die aussieht wie ein Hintern, schon unzählige Male erzählt.
Doch auch nach all den vielen Jahren kann sich Alma Müller beim Erzählen der Geschichte ein Grinsen nicht verklemmen. Und gleichzeitig ein Schaudern verbergen. Ein altes, unheimliches Geheimnis raubt ihr noch heute den Schlaf. Alma ist gedanklich kurz abgeschweift. Dennoch bemerkt sie etwas enttäuscht, dass ihre Gäste ihre Legende weder witzig, spannend noch geschmackvoll finden. Die Stadtführerin lässt sich aber nichts anmerken und erzählt die Pointe der Geschichte zu Ende: «So wurden die Berner damals in Solothurn von einem «Füdli» begrüsst.» Alma kann abermals keine Reaktion erkennen. Erst jetzt, als die Gruppe beim Stein angekommen ist, jetzt geht ein lautes Raunen durch die Gruppe und das Interesse ist geweckt. Allerdings nicht vor Begeisterung oder Belustigung. Nein, vielmehr weil sich die fünf Anwältinnen aus Zürich wundern. Da ist kein Stein. Keine Skulptur. Kein Füdli. Nur ein leicht angelehntes, offenes Gusseisentor. Und dahinter nichts. Der «Füdlistein» ist weg. Und Alma Müller blass.
Teil 2 | Scherben bringen kein Glück
27. März 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Nicole Bundi, Biel
Mit zitternden Händen öffnet sie das schwere Tor und tritt fassungslos an die Stelle, wo der Stein stehen sollte. Ihre Augen suchen hektisch jede Ecke und jeden Winkel ab. Der Stein ist und bleibt verschwunden. Panik befällt sie und ihr Gedankenkarussell beginnt zu drehen. «Das kann doch nicht sein.» Alma kann zwar ihre roten Angstflecken am Décolleté verbergen, den dunklen Gedanken, ihr Geheimnis würde sie einholen, nicht.
«Entschuldigen sie meine Damen, die Stadtführung muss an dieser Stelle leider beendet werden, handelt es sich doch beim vermissten «Füdlistein», der aus Solothurner Kalktstein besteht und damals seinen Platz in der sogenannten «minderen Stadt», der Solothurner Vorstadt, am inneren Berntor in der Mauer über dem Eingang hatte, um ein denkmalgeschütztes Objekt.» Ein weiteres Raunen geht durch die Gruppe. Alma hört die fünf Damen aber nur noch schwach und wühlt nervös in ihrer rot-weissen Umhängetasche auf der Suche nach dem Mobiltelefon. «Hallo? Ja, Müller hier. Bin ich mit der Polizei verbunden? Ich brauche dringend Hilfe an der Goldgasse.» «Frau Müller! Hören sie mich? Sind sie sicher, wie kann ein Stein dieser Grösse gestohlen werden? Und aus welchem Grund?», fragt der geduldige Beamter am Telefon. Er verspricht, einen Kollegen vorbei zuschicken und hängt ziemlich abrupt auf.
Alma versucht sich zu beruhigen. «Sicherlich hat der Denkmalschutz den Stein abgeholt, um ihn in einem Museum auszustellen oder zu restaurieren.» Das wäre zwar das erste Mal in ihrer langen Karriere als Stadtführerin und sie hätte sicher auch vorher davon erfahren. Nun verabschiedet sich Alma von den fünf Anwältinnen und empfiehlt ihnen noch drei tolle Restaurants ganz in der Nähe. Auf die kulinarischen Wünsche ihrer Gäste geht sie aber nicht mehr ein. Sie stammelt nur, dass Solothurn mit Sicherheit schweizweit das beste und vielfältigste Angebot an coolen, ausgezeichneten Restaurants habe. Alma winkt, dreht sich um und geht ein paar Schritte der Goldgasse entlang. Sie versinkt erneut in Gedanken. Die Goldgasse war früher ein bedeutender Ort, hat ihren wohlverdienten Namen der Münzpräge zu verdanken, die sich neben dem offenen Stadtbach befand. Alma riecht plötzlich die Münzen, die dort geprägt wurden, hört den Stadtbach rauschen und laute Männerstimmen streiten. Plötzlich stolpert sie über einen Steinbrocken und findet sich in der Realität wieder. «Die Nachbarn haben sicher mitbekommen, wie der grosse Füdlistein weggekommen ist», grübelt sie vor sich hin. Voller Hoffnung klingelt die Stadtführerin bei den Anwohnern und erkundigt sich bei einen nach dem anderen, ob sie etwas gesehen oder gehört hätten. Erfolglos. Niemand hat irgendetwas bemerkt oder will etwas bemerkt haben. «Es ist helllichter Tag, warum haben die Nachbarn nichts gesehen?» Bei Alma keimt die düstere Vorahnung wieder auf. Ein Passant scheint ihre Verfassung zu erkennen und fragt mitfühlend: «Geht es Ihnen gut?» Als Alma antworten will, bleiben ihr die Worte im Hals stecken. Ihr Blick fällt auf ein paar ungewöhnliche Spuren, die von der Goldgasse in Richtung Aare führen. Ihre Augen weiten sich und sie weiss nun mit Gewissheit: Der Stein wurde gestohlen!
Scherben bringen kein Glück
Um die Münzaustellung im Museum Blumenstein reisst sich an der Redaktionssitzung niemand. Das Team von Redaktoren, Fotografinnen und Layoutern will sich gerade dem nächsten Thema zuwenden, da stürmt mit einer halben Stunde Verspätung Jeffrey Affolter an den Sitzungstisch, ruft ohne Begrüssung: «Münzen? Blumenstein? Cool! Das mach ich!». Die Kolleginnen und Kollegen werfen sich fragende Blicke zu und nicken wohlwollend. Jeffrey nimmt die Unterlagen, verlässt den Raum, geht an seinen Arbeitsplatz und vereinbart bereits 30 Minuten später einen Termin im Museum Blumenstein. Schon vor dem Eingang hört Jeffrey laute Stimmen, eine scheint er sofort zu erkennen, «Der wertvolle Scherben ist weg!», ruft ihm Alma Müller entgegen, als er das Museum betritt. Die beiden kennen sich. Die Stadtführerin ist verzweifelt: «Diese Tonscherbe ist das älteste Zeitdokument, welches beweist, dass die Stadt Solothurn von den Römern zwischen 15 und 25 n.Chr. gegründet wurde» Jeffrey erkennt sofort die Tragweite dieses Diebstahls. Aus dem Augenwinkel sieht er wie Alma sich noch abstützen kann und dann langsam zu Boden fällt. Zuerst der Füdlistein, jetzt die Scherbe. Was geht da vor?
Teil 3 | Freiheitskämpfer vom Sockel
28. März 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Elisabeth Huser, Matzendorf
Jeffrey ist enttäuscht. Er hat sich auf ein interessantes Gespräch mit dem Münzexperten und Historiker Dr. Manfred Kämpf gefreut. Er hätte das Gespräch auf die wertvolle Scherbe geleitet. Der Journalist ist besessen von den römischen Keramikscherben, die im damaligen Salodorum einer Fertigungsphase zwischen 15 und 25 n. Chr. zugeordnet werden. «Schliesslich macht es diese Scherbe amtlich: 2020 wird Solothurn 2000 Jahre alt. Und ausgerechnet dieses historische Stück wird gestohlen», sagt er zu Alma Müller, die sich erholt hat und ihm nun langsam entgegen kommt. Sie nickt traurig und flüstert Jeffrey ins Ohr: «Der Füdlistein ist auch weg. Du weisst, da will uns jemand sehr schaden. Und du weisst auch wer». Jeffrey schüttelt den Kopf und macht eine abweisende Handbewegung. Er nimmt sein Handy aus der Jacke und ruft seinen Onkel an. «Hallo Kuno, hier ist Jeffrey. Ich brauche deine Hilfe.» Kuno Studer, der bekannte Solothurner Kommissar, ist kurz vor seiner Pensionierung und hat gefühlt alle Verbrechen mindestens zehnmal erlebt, schnaubt laut und sagt: «Dann schiess los!» Jeffrey Affolter erzählt seinem Lieblingsonkel vom neuen Job als Redaktor beim Solothurner Journal, vom Verlust der historischen Scherbe im Museum Blumenstein, vom Verschwinden des Füdlisteins in der Goldgasse und seinen Befürchtungen. Spätestens jetzt sitzt Studer aufrecht im Stuhl und sagt, er würde alles Nötige in die Wege leiten. Dann murmelt er noch: «Vor wenigen Jahren verwandelte sich das Museum Blumenstein in ein Casino der edleren Art. Es wurde fünf Monate lang gespielt, gezockt und dem Genuss gefrönt – wie anno dazumal, als die Adeligen unter sich waren.» Studer wird noch unruhiger und sieht die kunstvollen Gemälde im Museum vor sich: Gütig lächeln die Mitglieder der Familien Greder von Wartenfels und Stäffis-Mollondin von den Wänden auf die Besucher herab, die in ihrem damaligen Landsitz jetzt ein- und ausgehen.
Das Sirenengeheul ist schon von weitem zu hören, ehe die drei aufgebotenen Polizeiwagen via Fegetzallee in den Blumensteinweg einbiegen. Jeffrey fühlt sich inzwischen unwohl am Tatort und beschliesst zu gehen. Die Spezialisten der Polizei will er bei der Spurensuche im Museum nicht unnötig behindern. Er fährt Richtung Konzertsaal, will ein paar Schritte durch den Stadtpark gehen, will sich ablenken. Aber kaum angekommen, traut er seinen Augen nicht: «Tadeusz Kosciuszko wurde entführt», flüstert Jeffrey erschrocken. Noch vor ein paar Tagen hatte er mit Alma über den polnischen Freiheitshelden, der im Jahre 1746 geborenen wurde und 71 Jahre später in Solothurn verstarb, gesprochen. Noch letzte Woche trafen sie sich im Sterbezimmer von Tadeusz Kosciuszko, welches heute ein Museum an der Gurzelngasse ist. Exakt in dem Haus, wo Tadeusz Kosciuszko seine drei letzten Lebensjahre verbrachte. Und jetzt ist sein Denkmal im Stadtpark weg. Das Ganze wird immer mysteriöser. Jeffrey ruft Alma an: «Die Statue im Stadtpark ist weg». Er fragt sich, wer richtet solch einen grossen Groll auf die Ambassadorenstadt und welches historische Prachtstück ist das nächste Opfer? Sein Blick schweift in Richtung St. Ursen-Kathedrale: «Bitte nicht!».
Teil 4 | Den Stadtbach im Visier
30. März 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Christine Künzler, Schüpfen | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen
Studer sitzt zu Hause an seinem gemütlichen Schreibtisch, seinen Rauhaardackel «Inspector Barnaby» auf dem Schoss und listet peinlich genau alle vorhandenen Fakten auf. Längst hat er Feierabend. Es ist schon spät und der Kommissar ist müde. Aber heute ist es ihm egal. Müde, erschöpft und ausgebrannt ist er oft schon am frühen Morgen. Nach 40 Jahren Dienst, unzähligen Fällen und noch mehr Ärger will er nur noch eins: pensioniert werden. Und dann mit Barnaby auf die Jagd, mit seinem Enkel basteln und seine Ruhe haben. Doch jetzt ist sein Ehrgeiz geweckt. Mehr noch: Seine Ehre steht auf dem Spiel: Studer muss diesen Fall vor der grossen 2000-Jahr-Feier, an der Solothurn bis weit über die Landesgrenzen hinaus im Rampenlicht steht, lösen. Er weiss, diese Diebstähle sind weder Zufall noch ein Bubenstreich. Kuno Studer bleiben zwei Monate Zeit, um seine Heimatstadt zu retten. Und nur zwei Menschen, mit denen er den Fall lösen kann: Alma Müller und sein Neffe Jeffrey Affolter. Er ruft beide gleich am nächsten Morgen an, erreicht aber nur Alma und verabredet sich mit ihr in der Goldgasse. Studer ist als erster am Tatort. Er sieht sich nach weiteren Spuren um. Sein Blick schweift Richtung Aare und ihm fallen auch diese seltsamen Spuren auf, die auf etwas sehr Grosses und sehr Schweres hindeuten. «Weiss schon, dass es keine Riese gibt», schmunzelt Studer vor sich hin. Jetzt kommt Alma. Bevor er sie begrüsst, sagt er ein wenig nervös: Hier sind Spuren, die mich erschaudern lassen. Alma kennt seine Befürchtungen und ihr ist klar: Sie muss ihre geplante Stadtführung heute um 15 Uhr absagen. Soll sich ihre Kollegin Susi Frischbach um die Touristen aus Süddeutschland kümmern und ihnen die schönste Barockstadt der Schweiz präsentieren – «ohne Goldgasse und den Stadtpark», sagt sie am Telefon zu ihrer Kollegin vom Tourist Office. Alma ergänzt noch flüchtig, sie würde die Gründe später erklären, sei jetzt aber in Eile. Doch bevor sie sich verabschieden kann, hört sie ein Knacken in der Leitung und den Tourismusdirektor am Telefon. Tom Seiffert kennt Alma Müller schon seit sehr vielen Jahren und vertraut ihr blind. Er hört ihr zu und beruhigt sie: «Nimm dir Zeit, grüsse Kuno von mir und wenn ihr mich braucht, bin ich da.» Er ruft noch besorgt: «zu jeder Tages- und Nachtzeit» und ist weg. Alma geht ein paar Schritte der Goldgasse entlang driftet gedanklich weit weg. Früher floss hier der Stadtbach von Norden her offen durch die Stadt bis zur Aare. In den Häusern gab es kein fliessendes Wasser, vieles wurde im Stadtbach gewaschen. Alma sieht den Apotheker seine Gefässe vor seinem Haus an der Kirchgasse (heute Hauptgasse) reinigen. Zuvor säuberte weiter nördlich der Metzger die Därme der geschlachteten Tiere in demselben Bach. Jetzt hört Alma den Kommissar rufen und sie richtet Studer den Gruss von Tom Seiffert aus. Sie nehmen die mysteriösen Spuren unter die Lupe. Studer murmelt: «Hier wurde nicht nur ein historischer Stein gestohlen, sondern auch gegraben». Der Boden ist aufgerissen, die Bsetzisteine nur lose wieder hindrapiert und Wasser dringt an die Oberfläche. Haben die Täter den Stadtbach im Visier?
Jeffrey hat mittlerweile den Chefredaktor des Solothurner Journals angerufen und ihm mitgeteilt, dass die Münzsammlung absolut uninteressant und keine Geschichte wert sei. Chefredaktor Andreas A. von Burg ist genervt und sagt, dass ihm diese Münzen ziemlich egal seien und er jetzt weder Zeit und noch Nerven für ihn und seine historische Faiblesse habe. Jeffrey bleibt zu Hause und recherchiert. Wo gibt es eine Verbindung zwischen dem «Füdlistein», der römischen Scherbe und der Statue im Stadtpark? Vier tiefschwarze Espressi und zwei Stunden später ist er fündig geworden. Was er da gerade entdeckt hat, lässt seinen Atem stocken. Er versucht Studer telefonisch zu erreichen, doch der ist immer noch mit Alma unterwegs und hat kein Ohr für das Klingeln seines Handys. Jeffrey packt kurzentschlossen seine Kamera unter den Arm, macht sich auf zur Goldgasse und trifft seinen Onkel und Alma. Sie besprechen die Lage. «Ab sofort muss die Goldgasse unter Beobachtung gestellt werden. «Und bitte, das Solothurner Journal darf keinen Wind von der Geschichte bekommen», mahnt Studer.
Teil 5 | Das Geheimnis der Patrizierfamilien
31. März 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Joelle Harms, Selzach | Elisabeth Huser, Matzendorf
Am Nachmittag fährt Jeffrey Affolter mit Alma Müller zum Museum Blumenstein. Kommissar Studer ist schon da, steht in einer Ecke und starrt auf die kunstvollen Gemälde der Patrizier-Familien. Irgendetwas lässt ihn nicht mehr los. Er könnte schwören, dass sich alte Geschichten in den Gemäuern bemerkbar machen. Studer kennt sich aus mit der Solothurner Historie. Mehr noch: Auch er hat diese historischen Flashbacks. Studer sieht Joseph Glutz-Ruchti, genannt der Schuldenbaron, nun deutlich im Museum umhergehen. Der letzte Besitzer dieser Gemäuer aus den Reihen der Patrizier war Rittmeister am preussischen Hof und verheiratet mit Mathilde Pfyffer von Heidegg. «Was für ein Mann», fährt es dem Kommissar durch den Kopf. Wenn der Schuldenbaron mit seiner Frau und den Pferden in die Stadt fuhr, er auf dem Bock sitzend, seine Frau hinten, drehte er sich, bevor sie durchs Säutöri auf den Friedhofplatz fuhr, nach hinten um, und schrie «bück dich du Luder». Studer wird aus seinen Visionen gerissen, hört Alma mit Jeffrey sprechen und versucht seine Verfassung zu verbergen. «Kuno, was ist denn los?» fragt Alma. «Nichts.» Alma holt tief Luft und sagt mit bestimmter Stimme: «Kuno! Jeffrey! Seit Tagen wird gestohlen, wird Solothurn beschädigt und unser aller Geschichte Stück für Stück vernichtet. Unsere Heimat bröckelt und wir drei verbergen Geheimnisse und vertuschen alte Geschichten. So geht das nicht weiter!» Alma holt erneut Luft: «Wenn wir nicht endlich ehrlich sind, werden wir Opfer einer sehr subtilen Verschwörung.» Die leidenschaftliche Stadtführerin steht da und wartet. Studer und Jeffrey sind irritiert. Diese Ansage haben sie nicht erwartet. Jetzt geht Studer auf Alma zu, hält ihr die Hand auf die Schulter und flüstert ins Ohr: «Okay, wir spannen zusammen. Jeder von uns hat Puzzleteile, die wir zusammenfügen müssen, um das grosse Ganze zu sehen.» Auf dem Parkplatz setzen sie sich in den Jagd-SUV von Studer und besprechen die Chronologie der Geschehnisse. Nach gut zwei Stunden reisst sie ein lauter Klingelton aus dem Gespräch. Jeffrey nimmt ab. «Affolter! Was soll diese Wichtigtuerei? Welche geheimnisvolle Recherche? Morgen will ich eine gute Geschichte. Und nicht von Münzen oder anderem historischen Mist! Das ist so was von vorgestern. Digitalisierung, PropTech – das sind angesagte Themen! Oder deck auf, was da zwischen dieser jungen Solothurner Schauspielerin und diesem Politiker läuft, du weisst schon!» Chefredaktor Andreas A. von Burg gibt ihm bis um 19 Uhr Zeit.
Nach der gestrigen Besprechung sind die drei nun in der Lage, die Spuren in der Goldgasse neu zu interpretieren. Alma hat mittlerweile alle Steinbildhauer der Region kontaktiert und sich nach einem Laster mit Kran erkundigt. Fehlanzeige. Keines der Fahrzeuge sei an besagtem Tag in der Solothurner Altstadt gewesen. «Das werde ich nachprüfen», sagt Alma leicht drohend. In der Goldgasse bückt sich Jeffrey und wackelt an den losen Bsetzisteinen. Er schmunzelt, Alma und Studer nicken vielsagend. Ein paar Minuten später macht sich das Trio unter Jeffrey's Führung auf dem Weg zum Stalden. Und tatsächlich: Auch hier lose Bsetzisteine. «Was hat das zu bedeuten?», fragt Alma in die Runde. «Dass sich jemand mit dem Fliessplan unseres ehemaligen Stadtbaches sehr genau auskennt.» Jeffrey vermutet, dass mit den gestohlenen Objekten eine Fährte gelegt wurde und es sich dabei um etwas Grösseres handeln muss. «Ähnlich einer Schnitzeljagd?» Studer erntet Jeffrey's Zustimmung. «Also zurück auf Feld Eins!", fordert der Onkel auf und die Herren machen sich auf den Weg. Alma bleibt irritiert zurück und ruft «Feld Eins?" Studer dreht sich um und sagt «komm meine Liebe, es wird spannend».
Teil 6 | Der grosse Fund
01. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joelle Harms, Selzach | Elisabeth Huser, Matzendorf
Zurück beim Sockel in der Goldgasse, der ohne «Füdlistein» nackt und unspektakulär aussieht, gehen Kommissar Studer und Jeffrey Affolter wortlos um die Stehle herum. Alma ist auch dabei, allerdings kniet sie am Boden und sucht verzweifelt jeden Zentimeter äusserst genau ab. Alle drei fokussieren auf den einen, ausschlaggebenden Hinweis: «Wir werden hier ein Geheimnis lüften, welches nicht nur den Füdlistein, sondern die Geschichte in ein neues Licht rückt.» Studer und Jeffrey sehen zu Alma auf den Boden und sind hellhörig geworden. «Alma, du warst doch als erste am Tatort und hast frische Spuren gesehen. Warum hattest du solch grosse Angst? Du warst am Telefon mit der Polizei ausser dir. Warum hast du bis heute noch nie mit uns darüber gesprochen?», fragt Kuno Studer. Er unterdrückt seinen Ärger und versucht vielmehr einen freundschaftlichen Ton anzuschlagen. «Ich denke, es ist an der Zeit, uns einzuweihen.» Alma setzt sich auf den Boden, lehnt mit dem Rücken an die Wand, seufzt und erzählt den beiden Kollegen eine verrückte Geschichte. Jeffrey reicht ihr seine Hand und zieht sie auf die Beine. «Liebe Alma, wir werden noch heute alle einzelnen, losen Bsetzisteine aufheben und abtragen – dann wissen wir, was hinter dem Geheimnis steckt», nimmt Kommissar Studer die Fäden wieder in die Hand. Jeffrey schlägt vor, dass sie abwarten, bis es dämmert und dann alles absuchen. «Perfekt, und ich klappere bis es soweit ist alle Steinbildhauer, mit denen ich gestern telefoniert habe, persönlich ab.» Alma verabredet sich mit Studer und Jeffrey um 17 Uhr in der Goldgasse.
Jeffrey sitzt im Grossraumbüro der Redaktion, schreibt noch kurz das Ende seines Artikels um und ist zufrieden. Mit der Recherche über denkmalgeschützte Häuser, die in den vergangenen Monaten renoviert wurden, konnte er auch Chefredaktor Andreas A. von Burg überzeugen. Schöne, uralte Bauernhäuser umzubauen, sei ein Traum vieler. Sich aber an die Richtlinien des Denkmalschutzes zu halten, eher ein Albtraum. Jeffrey hetzt schon wieder Richtung Goldgasse, es ist kurz vor 17 Uhr. «Du hattest Recht!» Alma rüttelt an den losen Bsetzisteinen und schaut Studer mit weit aufgerissenen Augen an. «Hier ist ein Hohlraum, der mit Brettern abgedeckt ist!» Endlich, das Team hat eine Spur und die Goldgasse ein riesiges Gewölbe von mehreren Metern Länge. Nachdem sie den letzten grossen Solothurner Steinbrocken beiseite geräumt haben, eröffnet sich im Kegel der Taschenlampe hinter dem Loch nicht nur für Kuno Studer «eine Sensation!»: Ein perfekt gehauenes und gemauertes Rundgewölbe zeigt sich in voller Pracht. Jeffrey hat sofort eine Vermutung: «Beim Stehlen des schweren Füdlisteins ist der Laster mit Hebebühne eingesunken. Vielleicht sogar absichtlich, um mit dem Diebstahl des Füdlisteins uns alle in die Irre zu führen, uns vom wirklichen Ziel abzulenken», raunt er vor sich hin. Aber in welchem Zusammenhang steht die Statue des polnischen Nationalhelden Kosciuszko mit diesem Fund? «Die Statue und die Scherbe seien weitere Teile der Fährte», sagt Alma. Ihr wissender Blick spricht Bände. Studer erklärt, es sei kein Zufall, dass jeder von ihnen mit einem gestohlenen Gegenstand oder dem Ort des Geschehens eine besondere Beziehung pflege: «Alma, du und der Füdlistein. Jeffrey und die Statue und ich mit der Scherbe im Museums Blumenstein. Ich und meine Affinität zu den Solothurner Patrizierfamilien.» Studer, Alma und Jeffrey entschliessen sich, das Gewölbe wieder abzudecken. «Vorerst», sagt Kommissar Kuno Studer. «Morgen müssen wir die zuständigen Ämter einschalten.» Alma sieht Studer fassungslos an. «Das wirst du nicht wagen, jetzt wo wir dem Spuck auf der Spur sind!» Sie packt ihre Sachen und geht.
Teil 7 | Der ominöse Facebook Post
02. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joelle Harms, Selzach | Christine Künzler, Schüpfen
Alma ist erschöpft und ratlos. Sie lässt den Tag Revue passieren, kann aber mit dem besten Willen weder den geschichtsträchtigen Fund des Gewölbes einordnen, noch einen Zusammenhang zwischen den verschwundenen Gegenständen konstruieren. Umso mehr spürt sie die grosse Verbindung zu Jeffrey Affolter und Kuno Studer. Ist es die tiefe Passion zur Solothurner Geschichte? Sind es die gedanklichen Zeitreisen, die sie in alten Gemäuern und in der Nähe von Sehenswürdigkeiten mit Studer teilt? Oder die gut gehüteten Geheimnisse, die alle drei mit sich herumtragen? Alma ist erst in den frühen Morgenstunden eingeschlafen und entsprechend spät und gerädert aufgewacht. Sie greift zum Handy, ist hellwach als sie den verpassten Anruf von Jeffrey sieht. Schon um Viertel nach sechs hat er eine Sprachnachricht hinterlassen: «Halt dich fest, in einem Facebook Post schreibt «derunbekannteberner», dass der Füdlistein ihr neuer Unspunnenstein sei! Und in einem anderen Eintrag ruft eine Gruppe von Solothurnern auf, den Füdlistein zu suchen.» Den Rest hört Alma nicht mehr. Ihr ist schwindelig und bewusst, dass der Verlust des Füdlisteins nun öffentlich bekannt ist. Unter der Dusche legt sie sich einen ausgefeilten Plan zurecht. Zuversicht keimt auf. Jetzt noch schnell die passenden Schuhe und dann schnurstracks raus. Noch bevor die Tür ins Schloss fällt, vibriert ihr Smartphone und ihr Puls schnellt in die Höhe. Tourismusdirektor Tom Seiffert! Seiffert, der gestern noch hilfsbereit und entspannt war, ist nun ausser sich. «Der Füdlistein ist weg, die Stadt voller Touristen und mein Team nonstop am Telefon. Da bist du doch involviert!» Alle würden durch die Stadt irren, um diesen unmöglichen Solothurner Füdlistein zu suchen. Die Touristen, vor allem aus Bern, würden sogar nach Spielregeln für diese «geile Schnitzeljagd» fragen. «Alma! Was ist los? Ich will Antworten, Transparenz und Lösungen!». Alma versichert ihrem Chef, sofort ins Büro zu kommen. Mit Lösungen.
Auf dem Weg dorthin informiert sie Jeffrey und Studer. Sie einigen sich, dass das Fehlen des Steins, der Statue und der Scherbe bekannt gemacht wird und kreieren diese clevere Idee: «Solothurn spielt verrückt», soll ein neuer «Krimi-Trail» heissen, den die schönste Barockstadt der Schweiz zu bieten hat. Mit dieser Ablenkung würden sie genügend Zeit haben, das wahre Geheimnis hinter dem schwerwiegenden Fall aufzudecken und vor allem den unfassbar wertvollen Fund dieses unterirdischen Raums zu verbergen. Man würde den Leuten einfach sagen, die gestohlenen Teile seien bei Experten zur Restaurierung und daraus hätte Solothurn Tourismus diesen coolen Trail erarbeitet. Quasi ein historisches Pop-up. Alma findet die Idee brillant, fragt aber dennoch verunsichert: «Glaubt ihr wirklich, Tom Seiffert lässt sich damit abspeisen?» Es müsse noch eine Geschichte hinter der Geschichte her. Auch da sind Studer und Jeffrey nicht verlegen. Studer erzählt zehn Minuten später im Büro von Seiffert folgende Story: «Vorgestern in der Nacht meldete ein Passant bei der Polizei, dass an der Goldgasse Wasser aus den Bsetzisteinen tritt. Diese meldet den Vorfall beim Werkhof. Die Jungs rücken unverzüglich aus. Vor Ort stellen sie fest, dass es sich um den unterirdischen Stadtbach handelt. Es wird tief gegraben und siehe da, ein grosses Loch kommt zum Vorschein. Wie sollen wir vorgehen, fragen sich die Werkhof-Mitarbeitenden? Auf dem Fahrzeug befindet sich ein Hebekran. Sie entdecken den Füdlistein und entschliessen sich, das Loch mit diesem Stein zu schliessen. Dann wird es kurzerhand mit den Bsetzisteinen wieder abgedeckt. Der Schaden ist behoben. Da es sich um einen Noteinsatz handelte, wurde der Rapport direkt bei mir hinterlegt.»
Die Geschichte wirkt so glaubwürdig, dass die Flyer-Vorlage für den neuen Pop-up Krimi-Trail Minuten später in der Druckerei liegt. Nur Alma zweifelt.
Teil 8 | Doppelspiele
03. April 2020 | Autor | Balz Bruder, Chefredaktor der Solothurner Zeitung

Balz Bruder, 52, ist seit Herbst 2018 Chefredaktor der Solothurner Zeitung. Zuvor war er Blattmacher bei der Luzerner Zeitung, stv. Chefredaktor der Aargauer Zeitung und Persönlicher Mitarbeiter von Regierungsrätin Susanne Hochuli im Kanton Aargau.
Alma ist am Zweifeln, Jeffrey am Spintisieren - und Studer? Er findet die auf die Schnelle konstruierte Geschichte genial. Auch in eigener Sache. Die Sache mit dem unter dem Stadtbach vergrabenen Füdlistein lenkt das Interesse weg vom Kriminalistischen, hin zum Touristischen. Damit ist allen geholfen, oder? "Jedenfalls kann ich meine detektivische Arbeit nun in aller Gründlichkeit und ohne Beobachtung durch das Publikum tun", lehnte sich Studer entspannt in seinem Sessel zurück.
Die Gedanken rasten aber rasch wieder von einem Schauplatz zum andern. Gut, der Füdlistein war das eine, die Scherben das andere. Aber die Statue von Kosciuszko? Was, um Himmels willen, sollte der Kopf des Freiheitskämpfers, der seine letzten Jahre an der Gurzelngasse verbrachte hatte, mit der mutwilligen Entfernung, ja Entführung der wichtigsten Solodorensia zu tun haben? Legten der oder die Täter - Täterinnen nicht ausgeschlossen - eine falsche Fährte? Oder machten sie sich einen Spass daraus, die Spürnasen auf einen bestimmten Geruch zu bringen?
Studer kann sich einstweilen keinen Reim machen. Ratlos starrt er ins Büchergestell und entdeckt auf einmal ein Buch, das er vor Jahren mit Begeisterung "in einem Schnuuz" verschlungen hat: "Kosciuszko" hiess es und handelte von zwei Skifahrern, die 1928 am australischen Mount Kosciuszko verschwanden und ein grosses Geheimnis am höchsten Berg auf dem Festland des 5. Kontinents mit sich nahmen. Jenem Berg, den Erstbesteiger Pawel Edmund Strzelecki 1840. dem polnischen Nationalhelden zu Ehren nach dessen Namen benannt hatte.
Derweil hiess der Stadtbach einfach Stadtbach, weil er der Bach war, der durch die Stadt floss. Gut, dass Studer in diesem Moment, da seine Gedanken etwas an Schärfe verlieren, mit einem Telefonanruf von Tom Seiffert aus diesen gerissen wird. "Studer, das wird nun eine ganz grosse Sache", dröhnt der Tourismus-Direktor durch den Hörer, "wir müssen jetzt alles richtig machen, damit der Krimi-Trail unser Saison-Renner wird." Was das für ihn bedeute, fragt Studer. Und Seiffert antwortet: "Erstens müssen die Ermittlungen sozusagen «undercover» erfolgen, zweitens muss das Solothurn Journal mitmachen. Verstehst du?"
Studer hat sehr wohl verstanden. Doch seine Erfahrung sagt ihm: Eine zweifelnde Stadtführerin und ein eingebetteter Journalist bedeuten Risiken ohne Ende. Bedenken, die Seiffert zwar nicht in den Wind schlagen kann, aber im Brustton der Überzeugung festhält: "Mach dir um Alma keine Sorgen, die habe ich im Griff. Schliesslich ist sie meine Angestellte. Und was das Solothurn Journal betrifft: Wir machen mit denen für die Bewerbung des Krimi-Trails eine schöne Medienpartnerschaft, die ordentlich Geld in die Kasse spült. Da verliert auch Chefredaktor von Burg seine Krallen und wird zahm wie eine Katze, glaub mir."
Jeffrey brütet derweil in seiner Redaktionsstube vor sich hin. Sein Doppelspiel fasziniert und verunsichert ihn zugleich. Doch er will es wagen. Und legt einen Arbeitseifer an den Tag, der seinen Chef staunen lässt. "Na, Jeff, frisch verliebt, dass Dir die Arbeit so leicht von der Hand geht?", scherzt von Burg und wendet sich zufrieden ab. "Schön wär’s", denkt Jeffrey und setzt einen launigen Schlusssatz unter die Wiedereröffnung des frisch herausgeputzten Fachgeschäfts für alle Küchenangelegenheiten im Schatten von "La Couronne" und St. Ursen.
Derweil reift in ihm der Plan: "Ich muss heute Nacht zurück an die Goldgasse." Früher, da die Journalisten hinter ihrer Schreibmaschine noch qualmen durften, was das Zeug hielt, hätte er sich nun eine Parisienne angesteckt. Stattdessen greift er in die Tüte mit dem Vegan-Snack und schnappt sich zwei Randen-Chips. In seinem Kopf rattert es: "Ein Gewölbe macht nur Sinn, wenn es einen Ein- und einen Ausgang hat.
Ich muss herausfinden, wohin dieser verdammte Gang führt", macht sich Jeffrey mit einem Kraftausdruck Mut. Er geht - entgegen seiner Gewohnheit - nicht ins "Oeufi" zum Feierabendbier, sondern huscht eiligen Schrittes nach Hause an die Judengasse. Und wartet das Eindunkeln ab.
Teil 9 | Unterirdisch vernetzt
04. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joelle Harms, Selzach
Auch Tom Seiffert verbrachte den zweiten Teil des Nachmittags voller Tatendrang. Er war ziemlich zufrieden. Kurz vor fünf Uhr hatte er seinen guten Kumpel in Zürich angerufen, der den Vorsitz der Jury für den Tourismus Award hält. «Karl, du weisst, dass der Kanton Solothurn schon längt einen Award hätte bekommen sollen. Das ist ein Politikum. Und mit diesem unschlagbar genialen und historischen Krimi-Trail spielt Solothurn nun ganz vorne mit. Da kommt ihr gar nicht mehr drum herum.» Karl Flückiger ist nur halb so begeistert wie Seiffert. Aber der Solothurner Tourismusdirektor lässt sich weder verunsichern noch bremsen. «Karl, unter uns: Du kannst da sehr viel Goodwill bei den Solothurner Touristikern, Hoteliers und Gastronomen schaffen. Und den brauchst du für deinen Wahlkampf im Herbst.» Tom Seiffert versichert dem Zürcher Kollegen, er sei voll und ganz auf seiner Seite. Ja ganz Solothurn sei auf seiner Seite, dann verabschiedet sich Seiffert und grinst siegesbewusst. Jetzt muss er nur noch Facebook in den Griff bekommen. Schon eine Stunde später erhielt Tom Seiffert die Nachricht, der Krimi-Trail «Solothurn spielt verrückt» sei nominiert. «Geht doch», sagt Seiffert so vor sich hin, packt seinen Designer-Messenger und geht lässig Richtung Baseltor. Heute würde er mit offenem Dach nach Hause fahren. «So ein Cabriolet ist doch immer ein Hingucker», beschliesst er und verschwindet beschwingt im Parkhaus.
Mit Stirnlampe und Rucksack bewaffnet macht sich Jeffrey kurz vor 22:00 Uhr auf den Weg Richtung Goldgasse. Ausnahmsweise ganz in Schwarz gekleidet. Er zieht verstohlen die Kapuze seines Hoodies noch etwas tiefer ins Gesicht. Die Gassen der Altstadt sind menschenleer. Ein Blick nach links, einer nach rechts: «Herzlich Willkommen im Leben eines Verbrechers», murmelt er vor sich hin und hastet lautlos in die Goldgasse. Ebenso lautlos entfernt er die Bretter oberhalb des Hohlraums und steigt langsam hinab in dieses riesige Gewölbe. Vorsichtig tastet er sich dem feuchten Gemäuer entlang. Der Gang ist nach Süden ausgerichtet und dessen Ende verläuft im Nichts. Es ist zappenduster und angsteinflössend still. Leicht gebückt legt Jeffrey einige Meter zurück, ehe er innehält.
Der Schein seiner Taschenlampe trifft auf einige Backsteine oder präziser, auf deren Überbleibsel. «Reste von Backsteinöfen des ehemaligen Krutbades», flüstert Jeffrey sichtlich erfreut. Das Solothurner Krutbad ist eine der wenigen archäologisch untersuchten spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Badstuben. Diese standen meistens an Fliessgewässern, um das Frischwasser einfach entnehmen und das Schmutzwasser leicht entsorgen zu können. «Perfekt gelegen beim Stadtbach und der Aare», murmelt Jeffrey. Er kennt die Auswertungen dieser Ausgrabung in und auswendig. Eines der drei Stadtbäder, welches im Jahr 1705 abgerissen und dessen Grundstück zur selben Zeit von der Familie Besenval gekauft wurde. Aufgrund dieser Entdeckung weiss Jeffrey, dass er sich direkt an der Aare befinden muss. Dann biegt der Gang nach rechts ab. Ob es der offizielle, unterirdische Gang ist, der das Palais Besenval seit 2006 mit dem Landhaus verbindet? «Nein, dieser hier würde garantiert nicht der offizielle Weg sein!» Einige Schritte später trifft der Kegel seiner Taschenlampe auf eine Holzleiter. Jeffrey erkennt am Ende dieser Leiter eine geschlossene Luke. Vorsichtig nimmt er den Anstieg in Angriff. Mit zittrigen Händen entriegelt er die schwere Tür. «Was zum Teufel …!», entfährt es Jeffrey und steigt ins Freie. «Du kannst vielleicht Alma oder deinen von Burg, vielleicht sogar Tom Seiffert täuschen, aber nicht mich!», schreit ihn Kommissar Studer an. Hattest du wirklich das Gefühl, diese mysteriöse Geschichte alleine aufzudecken und dann deinen vermeintlichen Erfolg als Journalist zu feiern? Lächerlich!»
Teil 10 | Die alte Badstube
06. April 2020 | Autor | Christof Gasser, erfolgreichster Krimiautor der Schweiz

Christof Gasser, 59, Betriebsökonom ehemaliger Dozent für Strategisches Management Fachhochschule Nordwestschweiz, lebte und arbeitete während zwölf Jahren in Asien, heute selbstständiger Schriftsteller und Autor der schweizweit erfolgreichen «Solothurn»-Krimis.
«Runter bevor uns jemand bemerkt» Kommissar Studer gestikuliert zu einem beleuchteten Fenster des Palais Besenval und bugsiert Jeffrey rasch die Leiter hinunter und folgt ihm hinterher.
Der Schreck der Begegnung sitzt Jeffrey in den Knochen. Er holt tief Luft und lehnt sich mit dem Rücken an einen vermutlich zur alten Badstube gehörenden Mauerrest. «Mach mal halblang, Onkel Bruno. Was tust du eigentlich hier. Ich dachte, Alleingang sei bei euch verpönt.»
«Geht dich nichts an. Amtshandlung», schnarrt Studer.
«Ach so, Amtshandlung. Wie war das genau mit ‘Wir sind ein Team und lösen den Fall gemeinsam’?»
Studer schnaubt abschätzig und verkneift sich die Antwort. Jeffreys Frage hat offenbar einen wunden Punkt getroffen. «Was hoffst du, hier zu finden mitten in der Nacht?», legt dieser nach.
Studer macht einen Schritt auf Jeffrey zu und tippt mit seinem Zeigefinger an seine Stirn. «Untersteh dich, mir meine Fragen zu stellen.
Bevor Jeffrey erneut aufbegehren kann, hebt Studer die Hand. Ein versöhnliches Grinsen löst seine grimmige Miene ab. «Schon gut, das Gewölbe hat mir keine Ruhe gelassen und ich wollte schauen, ob wir etwas übersehen haben.»
«Was denn zum Beispiel?»
«Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier um nachzusehen, du Schlaumeier», brummt Studer. «Aber wenn du schon da bist, kannst du mir beim Suchen helfen.»
«Wonach?»
«Sage ich dir, sobald wir es gefunden haben.» Studer reckt den gestreckten Daumen nach hinten. «Im Gewölbe habe ich nichts Auffälliges bemerkt. Und wenn wir hier nichts finden, weiss ich nicht mehr wo suchen.»
«Warum nicht weiter oben in der Goldgasse?», wendet Jeffrey ein.
«Weil es gegen oben niedriger und enger wird. Ausserdem: Weshalb sollte man so schwere Klötze wie den «Füdlistein» und womöglich den alten Kosciuszko unterirdisch die Gasse hochschleppen, wenn der Weg abwärts kürzer und weniger beschwerlich ist.»
«Du glaubst, man hat den Stein tatsächlich irgendwo hier versteckt. Den Kosciuszko auch?»
«Oder von hier aus fortgeschafft.» Studer richtete den Strahl seiner Lampe auf die Luke über ihnen. «Die Dinger konnten über die Mauer des Barockgartens in ein Boot gelassen und abtransportiert worden sein. Fort mit Schaden.» Studer machte eine wegwerfende Geste.
Jeffrey richtet seine Lampe ebenfalls auf die Luke. «Vielleicht finden wir Spuren.»
«Vielleicht hätte ich das schon, wenn du nicht dazwischengekommen wärst.» Studer knufft seinen Neffen in die Seite. «Kannst dich nützlich machen, wenn du schon da bist, los.»
Jeffrey erklimmt die Leiter als Erster. Er will die Luke öffnen, als ein helles Klirren und dumpfer Schrei sie beide erstarren lässt.
«Was war das?», stösst Jeffrey hervor.
«Klang wie der Schrei einer Frau», sagt Studer. «Kommt vom Gewölbe, weiter oben.» Die beiden sehen sich an. Die Erkenntnis leuchtet gleichzeitig in ihren Augen auf. «Verdammter Mist», ruft Studer. Sie lassen alles stehen und liegen und eilen auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen sind. Auf der Höhe des Kollegischulhauses über ihnen wird ihre Befürchtung zur Gewissheit. Zuerst sehen sie nur die Umrisse der Gestalt, die reglos am Boden liegt. Jeffrey ist als Erster bei ihr. Sein Strahl erleuchtet ihr blasses Gesicht und die blutende Wunde am Kopf ober dem linken Ohr.
«Alma!»
Teil 11 | 40 Jahre geschwiegen
07. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen
Alma, die nun wieder bei Bewusstsein ist, blinzelt benommen in die Kegel zweier Stirnlampen. Stöhnend hält sie ihre Hand vors Gesicht. «Was tust du hier? Bist du mir gefolgt», wollte Jeffrey wissen. «Psst! Oder willst du die ganze Stadt wecken?» Studer tupft mit einem Taschentuch das Blut von Alma's Stirn. «Es gibt sicher eine plausible Erklärung.» «Wirklich? Auf die bin ich gespannt», runzelt Jeffrey die Stirn. «Ich habe mich nochmals gründlich mit dem Fliessplan des ehemaligen Stadtbaches auseinandergesetzt und eine seltsame und zugleich gruselige Entdeckung gemacht», beginnt Alma. «Erzähl», drängt sie Jeffrey und erntet Kuno's mahnenden Blick. «Okay, okay. Ihr erinnert euch doch an all die losen Bsetzisteine?! Es kann kein Zufall sein, dass sich sowohl hier beim Palais Besenval, wie am Stalden und in der Nähe des Stadtparks die drei Stadtbäder ausgegraben wurden. Ich wollte mich vergewissern, ob auch am Stalden ein unterirdischer Gang gegraben wurde.» «Und? Was hast du entdeckt?», fällt ihr Jeffrey erneut ins Wort. Alma erhebt sich und geht immer noch leicht benommen Richtung Ausgang. «Wenn mir die Herren bitte folgen würden …» Tatsächlich! Auch hier wurde nach dem gleichen Muster gearbeitet. Holzbretter verdecken den Eingang eines unterirdischen Gangs. «Aber das ist noch nicht alles!», erklärt Alma stolz und steigt hinab. Auch hier lässt das Gewölbe Rückschlüsse auf die ehemalige Badstube zu. Alma zeigt mit zittrigem Zeigefinger auf eine kleine Steinempore. «Der Kopf des Kosciuszko!», flüstert Kuno. «Und wo ist der Rest?», schreit Jeffrey empört. «Und wo die uralte Tonscherbe?»
Die Morgensonne scheint. Seiffert fährt in seinem Cabriolet Richtung Solothurn und telefoniert seit zehn Minuten. «Sorry, aber das ist doch kein passendes Wording für eine Medienmitteilung. So etwas wird auch vom Solothurn Journal aufgenommen.» Dr. Claudia Talbach lässt den Tourismusdirektor ausreden. «Herr Seiffert, ich verstehe ihre Einwände, aber glauben sie mir, wir wissen was wir tun, wir schreiben von morgens bis abends Medienmitteilungen und …» «Ja genau, das merkt man», wird Seiffert nun deutlicher. «Klartext Frau Dr. Talbach: Ich will, dass Solothurn back on the map ist und zwar morgen und so wie es Solothurn verdient!» Seiffert fährt ins Parkhaus, fällt aus dem Handynetz und ist erleichtert. Die Rede beim Gala-Event des Tourismus Awards in Zürich würde er mit Sicherheit selber schreiben. «Dieser Speech muss so richtig reinhauen, Solothurn ist es wert.» Zurück im Büro reisst Kommissar Studer den Tourismusdirektor aus seiner Siegerpose. «Tom, wir müssen sprechen, in deiner Stadt ist der Teufel los!» «Ach Kuno, du mit deinem Pessimismus, jetzt lass meine Stadt in Ruhe.»
«Ja, dann wünsche ich dir viel Glück. Aber sei nicht erstaunt, wenn plötzlich Dinge an die Oberfläche kommen, die deine Pläne knicken.» Seiffert verdreht die Augen und ist froh, dass Studer schon auf der Treppe ist und geht. Studer ruft Alma an. «Schön rufst du an, mein Kopfweh ist weg, aber dass mich jemand mit dem Bsetzistein angegriffen hat … das macht mir Sorgen.»
«Alma, erinnerst du dich an die Diebstähle im Frühling vor 40 Jahren?» Alma verstummt und schnappt nach Luft. «Wie könnte ich diese drei Monate vergessen haben?» Studer wird nun etwas verlegen und versucht das Gespräch auf den unheimlichen Fall von damals zu lenken. Alma erinnert sich an eine andere Geschichte. «Die gestohlenen Gemälde wurden nie gefunden», sagt Studer. Alma seufzt und klagt über plötzliches Kopfweh. «Schau meine Liebe, ich bin ganz sicher, auch wenn wir an diesem Freitag im Jahr 1980 ehrlich gewesen wären, hätten wir die Diebstahlserie von jetzt, 40 Jahre später, nicht verhindern können.» «Aber etwas anderes retten können!», sagt Alma Müller jetzt klar und deutlich. Kuno Studer schweigt lange Sekunden. «Ich erkenne die Zusammenhänge klar und deutlich, bis in wenigen Tagen haben wir beide Fälle gelöst – den von jetzt und den von damals», ist sich Studer sicher.
Alma weiss, nun wird kein Stein auf dem andern bleiben.
Teil 12 | Ferdinand Hodler
08. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joëlle Harms
Alma sitzt auf ihrem Sofa, blickt auf die Dächer der Solothurner Altstadt und hat schwere Gedanken. «Warum nur holt uns gerade jetzt diese schlimme Sache ein? Jetzt, wo wir doch beide ein ruhiges Leben haben.» Tränen kullern ihr über die Backen, sie leidet. Aber sie weiss auch, dass sie Kuno sehr viel zu verdanken hat. Einmal mehr holt sie der neue Klingelton ihres Handys aus ihren Gedanken.
«Kuno, du?» Studer tönt anders, viel unsicherer, viel weicher. «Weisst du, ich habe diesen Fall vor 40 Jahren einfach verdrängt. Schliesslich stand meine Karriere auf dem Spiel.» «Und mein Leben», haucht Alma kleinlaut ins Telefon. «Ja, genau.» Studer ist froh, dass Alma einigermassen gefasst reagiert. «Ich nehme an, dass du dieselben Vermutungen hast wie ich?» Almas Stimme ist wieder kraftvoller, sie gibt sich unverbindlich. Zu gross ist ihre Angst, dass der 40-jährige Fall wieder aufleben würde. Dass die Diebstähle von heute ihren Ursprung im Frühling 1980 haben könnten.
Vor vierzig Jahren war Alma selbst eine Gejagte. Mit grossem Eifer und der unbändigen Lust auf Abenteuer hatte sie mit drei weiteren Studentinnen «Das historische Quartett» gegründet. Die angehenden Historikerinnen wollten beweisen, wie schlecht die Kunstgegenstände in den Schweizer Museen gesichert waren. «Nur die Naivität beweisen», sagten die drei in anonymen Interviews in allen Schweizer Medien. Sie stahlen historische Exponate, versteckten diese gut eine bis zwei Wochen, um sie dann wieder an Ort und Stelle zurückzubringen. «Natürlich auch unbemerkt, das war uns wichtig», sagt Alma leise vor sich hin. So, als wolle sie sich beruhigen.
Auch in diesem Frühling 1980. Damals sollten die Selbstbildnisse von Ferdinand Hodler ihre Königsdisziplin werden. Dieser Bilderzyklus machte die Runde, war überall in der Presse und sollte auf dem Weg nach Berlin noch kurz Halt in Bern machen. Kuno Studer hatte zur gleichen Zeit als junger Kommissar eine Stellvertretung in Bern. Er verfolgte das Quartett nicht nur medial, sondern auch real, beobachtete sie, wollte die wahre Motivation dieser Diebstähle orten. Und konnte nicht verbergen, dass ihn die vier jungen Frauen faszinierten. «Vor allem eine ging Kuno nicht mehr aus dem Kopf.» Alma lächelt und erinnert sich, wie Studer ihr immer wieder begegnete, wie sie sich Botschaften zukommen liessen. «Was war das für ein aufregendes Spiel!»
Ferdinand Hodlers Bilder sollten dem Ganzen eine Ende setzen. Noch bevor «Das historische Quartett» die Selbstbildnisse wegtragen konnte, hat sie Studer überführt. Drei der Frauen konnten fliehen, Alma wurde festgenommen. «Ich wollte mich festnehmen lassen», sagte Alma damals zu Studer. Drei Monate lange waren sie ein Paar. Glücklich, wild und gefährlich. «Und dann kam der Tag, an dem alles …» Alma hat erneut Tränen in den Augen. Und Angst, dass nun alles auffliegen würde.
Wieder reisst sie der Klingelton aus ihren Gedanken. Doch dieses Mal ist es Tom Seiffert. «Alma, bitte komm schnell ins Büro, die Tourismuspreis-Jury hat sich kurzfristig angemeldet», sagt der Tourismusdirektor etwas aufgeregt. «Ich bin schon unterwegs, kein Problem.» Seiffert fällt ein Stein von Herzen und Alma trocknet sich die letzten Tränen ab. «Jetzt ist ganz grosse Showtime angesagt», motiviert sich Alma. Schliesslich steht nicht nur ihre, sondern auch die Zukunft von Solothurn und der 2000-Jahr-Feier auf dem Spiel.
Kurz vor dem Tourismusbüro klinget ihr Telefon. «Was, wer ist dran? Sie haben was? Die Tonscherbe? Wo?» Alma verabredet sich um 20 Uhr im Stadtpark.
Teil 13 | Die Vergangenheit
Autor | Michael Hug, Präsident von Region Solothurn Tourismus

Michael Hug, 55, ist Präsident von Region Solothurn Tourismus und Präsident der Fondation Reinhardt von Graffenried in Bern, welche die Swiss Press Awards verleiht. Er betreibt ein Textbüro in Solothurn und war früher Journalist.
Alma ist aufgewühlt. Doch im Moment, in dem sie die Türe zum Tourismusbüro öffnet, strahlt sie ihr Stadtführerinnenlächeln, als beträte sie die Bühne des Stadttheaters. Tom Seiffert präsentiert der Jury das Konzept des Krimi-Trails und fordert Alma auf, zu erzählen, wie sie auf ihre Idee gekommen sei. «Kürzlich meldete sich eine Familie für eine Stadtführung an, deren behinderte Tochter eine leidenschaftliche Krimileserin ist. Ich habe mir nächtelang den Kopf zerbrochen, wie ich ihr Gemüt etwas aufhellen könnte, bis mir der Gedanke kam, einen Krimi aus meiner Stadtführung zu machen. Voilà.» Die Jury ist entzückt. «Diese Geschichte», sagt Jurypräsident Flückiger, «soll unser Publikum morgen Abend an der Preisverleihung auch hören.»
Während im Tourismusbüro noch an Prosecco-Gläsern genippt wird, sitzt Alma bereits auf einer Parkbank vor dem Kunstmuseum. Nacheinander schlagen die Kirchturmuhren 20 Uhr. Plötzlich löst sich eine drahtige Gestalt aus der Dunkelheit und bleibt zwei Meter vor ihr stehen. «Hast du wirklich gedacht, die Sache werde dich nie mehr einholen?», fragt eine schneidend scharfe Frauenstimme.
«Wer bist du», fragt Alma kühl. Sie ist angespannt wie eine Raubkatze, die zum Sprung ansetzt.
«Du weißt wer ich bin. Du hast mit deinem Polizisten lange genug nach meiner Leiche gesucht. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich lebe noch.»
In Alma brennt es lichterloh. Nun ist Gewissheit, was bisher dunkle Ahnung war. Zum tausendsten Mal seit vierzig Jahren läuft in ihrem Kopf der selbe Film ab. Wie sie nach dem Diebstahl im Berner Kunstmuseum in zwei Gruppen fliehen. Wie sie mit Mona den steilen Aareabhang bei der Lorrainebrücke herunterstürmt, die Beute im Rucksack. Wie sie den Uferweg erreichen, aus dem Nichts ein breitbeiniger Riese auftaucht und eine Taschenlampe aufblitzt. Wie Mona blitzschnell reagiert und abhauen will. Wie ein dumpfer Schlag ertönt, ein lautes Platschen, Gurgeln. Wie Kuno auf sie zukommt, die Taschenlampe löscht und nach dem Rucksack greift.
«Warum bist du nicht zur Polizei?», fragt Alma äusserlich ungerührt in die Stille. «Mit der warst du schon im Bett», tönt es zurück.
«Wo ist die Scherbe», fragt Alma weiter. «Die bekommt deine Stadt zurück, wenn dein Leben in Scherben liegt», sagt die Frauenstimme.
«Warum Kosciuszko?» Alma bekommt keine Antwort. Die hagere Erscheinung ist in der Dunkelheit verschwunden.
Der nächste Tag ist Tom Seifferts grosser Tag. Gleich wird er den Tourismus Award entgegennehmen. Im Zürcher Schiffbau sind die TV-Kameras auf ihn gerichtet, während Karl Flückiger eine überschwängliche Laudatio auf Solothurn Tourismus verliest. Seifferts kurzes Dankeswort ist eine mehrminütige Rede zu den Herausforderungen des schweizerischen Tourismus. Den Schlusspunkt setzt er mit der der Stadtführerin Müller, die den Krimi-Trail für eine Rollstuhlfahrerin erfunden hatte. Auf Grossleinwand erscheint ein Foto von Alma. Das Publikum klatscht gerührt.
Zur selben Zeit tigert Alma Müller zuhause in Solothurn vom Bad in die Küche ins Wohnzimmer ins Bad in die Küche. Sie hatte sich den ganzen Tag eingeschlossen. Einzig Kuno hatte sie kurz vor Mittag in die Wohnung hereingelassen, um ihm vom nächtlichen Treffen beim Museum zu erzählen. Mit den Worten «ich regle das», hatte er sich nach einer Stunde verabschiedet. «So wie damals?» hatte sie noch hinterher gerufen. Doch die Tür war schon mit einem Knall ins Schloss gefallen.
Erst jetzt fällt ihr ein, dass ihr Handy immer noch am Ladekabel im Schlafzimmer liegt. Acht Anrufe in Abwesenheit. Fünf Textnachrichten von Jeffrey: «Ruf mich an. Dringend!!!» «Habe Fragen zu Zeitungsberichten von 1980. Melde dich!» «Weiss alles über das historische Quartett...» «Verdammt, wo bist du?» «Werde alles veröffentlichen, wenn du weiter schweigst.»
Alma schreibt eine SMS an Kuno: «Wir haben noch ein Problem. Komm so schnell wie möglich.»
Teil 14 | Heisser Frühling 1980
11.04.2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Claudia Sollberger, Halten | Hans Fischer, Lüterkofen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joëlle Harms, Selzach
Studer ist auf dem Weg zu Alma, ist voller Zweifel, Sorgen und diffuser Ängste. «Ich muss klaren Kopf bewahren, sonst eskaliert die Situation vollends», murmelt er vor sich hin und schaut trotzig in den Rückspiegel. Entschlossen besinnt er sich auf seinen scharfen Verstand und listet die Fakten auf: «Drei historische Gegenstände sind weg, die Vergangenheit hat uns eingeholt und Mona lebt!» Studer nickt und biegt Richtung Klosterplatz ab. Auch die spontane Erfindung des Krimi-Trails hat für Solothurn immerhin den Tourismus Award in der Kategorie «Best Tour» eingebracht. Studer hat seine Gedanken geordnet. «Alma, bitte öffne die Tür, ich bin in zwei Minuten bei dir.»
Als Studer bei Alma eintrifft, findet er sie blass und aufgewühlt vor. Die sonst fröhlichen Augen, die er schon immer an ihr mochte, schauen ihn traurig an. «Kuno, als ich Mona in der Dunkelheit vor mir sah, dachte ich sie sei …! » Mona, damals die Anführerin des Quartetts. Sie war besessen davon, der Öffentlichkeit zu demonstrieren, wo die wahren Fehler im System lagen. Alma wollte schon länger aussteigen. «Kuno, du kennst mich doch, ich liebe Gerechtigkeit, unsere Stadt und lebe nach diesem Wengigeist, der in unseren Gassen herrscht. Wie oft erzähle ich den Besucherinnen und Besuchern auf den Stadtführungen, dass die Konflikte in Solothurn ohne Gewalt und in friedlicher Absicht gelöst werden.» Mona war anders. Sie liebte den Nervenkitzel, den Konflikt. Und sie polarisierte und provozierte. Das historische Quartett war damals als anarchistische Gruppierung der Jugendbewegung 1980 positioniert und vermummt auch in TV-Sendungen zu sehen. Dort hatten sie immer betont, dass es nicht um Gewalt, nicht um Geld, sondern nur um die Demonstration der gesellschaftlichen Naivität gehe. «Ich verstehe immer noch nicht, warum wir damals, als man uns gerufen hatte, Monas Leiche zu identifizieren und diese gar nicht da war, dass wir da geschwiegen haben?»
Kommissar Studer hält seinen Kopf in den Händen und hört Alma weinen. «Ich kann nicht mehr, mach etwas, bitte Kuno!» Studer stellt seinen Kaffeebecher auf den Tisch, rutscht zu Alma aufs Sofa und nimmt sie in den Arm. «Alma, wir können nichts ungeschehen machen, aber wir sind nicht verloren.» Alma schaut ihn ungläubig an. «Ich bin kein kleines Mädchen. Ist lieb gemeint, aber sei ehrlich zu mir.» Studer zählt die Fakten auf. Das Wichtigste: Mona lebt! Die Diebstähle wurden nie gemeldet, die Hodler-Bilder waren offiziell nie weg. Studer kann Alma beruhigen. Sie wissen aber beide, dass sie unverzüglich zwei Probleme lösen müssen: Mona’s Rachefeldzug und Jeffrey’s Recherche.
«Ich muss abliefern Kuno!», schreit Jeffrey ohne Begrüssungsfloskel ins Telefon, «von Burg sitzt mir im Nacken!». Studer beruhigt ihn. «Okay Jeffrey, ich übernehme von Burg, stecke ihm, dass wir für die Wildschweine, die bei uns im Revier grosse Schäden anrichten, mit den Berner Behörden eine gute Lösung gefunden haben. Alles noch top secret.» Jeffrey zweifelt. «Wir müssen jetzt zusammenarbeiten. Keine Alleingänge mehr, sonst …!» Studer droht.
Er ruft Chefredaktor von Burg an. «Studer, sie mögen mich für einen Idioten halten, aber diese fadenscheinige Wildgeschichte ist doch ein billiges Ablenkungsmanöver.» «Hören Sie, ich mach das wieder gut, sobald wir Licht in unseren Fall gebracht haben», verspricht ihm Studer. «Ich nehme sie beim Wort. Sie wissen aus Erfahrung, wenn ich recherchiere, dann kommt alles ans Tageslicht. Nicht nur diese lächerliche Liebesgeschichte, dann sind sie am Ende!» Kuno Studer schluckt. «Ach von Burg, sie schlauer Fuchs – alles verjährt.»
«Wo hat Mona bloss diese Tonscherbe versteckt?», überlegt Alma. «Ich weiss, dass sie damals eifersüchtig war, auf mich und auf Kuno. Gut möglich, dass sie uns jetzt schaden will. Aber warum genau 40 Jahre später?» Draussen herrscht eine warme, leichte Brise. Alma und Kuno schlendern der Aare am Quai entlang. «Kuno, ich habs!» Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen». Alma zerrt Kuno zu den Resten der Castrummauer. Gebaut im Jahr 300, die damals den kleinen Vicus Salodurum abgelöst hatte. «Hier irgendwo muss sie sein, die wertvolle Tonscherbe, hier am Ort der Entstehung! Vor 2000 Jahren fand man sie hier! Mona hatte schon damals auf Symbole geachtet, bestimmt wollte sie, dass die Scherbe wieder an ihren Ursprungsort gebracht wird!» Kuno und Alma entdecken eine Stelle mit losen Steinen, graben, sprechen kein Wort und dann: «Gefunden!», schreien beide gleichzeitig. Doch daneben liegt noch mehr. «Kuno, unfassbar, schau, das könnte unsere Rettung sein – und die des Solothurner Jubiläumsjahrs! Nur von Mona kann’s nicht sein, das kennen nur wenige Solothurner Insider …».
Teil 15 | Typisch Solothurn?
14. April 2020 | Autor | Christof Gasser, erfolgreichster Krimiautor der Schweiz

Christof Gasser, 59, Betriebsökonom ehemaliger Dozent für Strategisches Management Fachhochschule Nordwestschweiz, lebte und arbeitete während zwölf Jahren in Asien, heute selbstständiger Schriftsteller und Autor der schweizweit erfolgreichen «Solothurn»-Krimis.
Kuno und Alma haben Jeffrey eingeweiht. Nun stehen sie zu dritt vor den Mauerresten des römischen Castrums ... und sind einigermassen ratlos.
«Ich packe das nicht ganz», sagt Jeffrey.
«Was packst du nicht», blafft Studer. Es nervt ihn offenbar, dass Jeffrey nicht den gleichen Enthusiasmus über den Fund an den Tag legt, wie er und Alma.
«Dass die Scherbe hier wieder auftaucht. Ich meine, was will diese Mona uns damit sagen? Und überhaupt …» Jeffrey verfällt ins Grübeln.
«Und überhaupt?», drängt Alma, bemüht, zwischen dem ungehaltenen Studer und seinem zurückhaltend kooperierenden Neffen zu vermitteln. «Wenn du schon nichts von unseren Theorien hältst, lass uns wenigstens an deinen teilhaben.»
Studer lässt ein zustimmendes Knurren vernehmen, was Jeffrey weniger beeindruckt als Almas Aufforderung, seine Gedanken laut auszusprechen. «Mona passt nicht in diese Geschichte.»
Es dauert eine Weile, bis Alma und Studer diese Aussage verarbeitet haben. Alma fehlen die Worte, im Gegensatz zu Studer. «Wie Sie passt nicht? Sie war da und hat Alma bedroht, bevor sie wieder verschwand – und das zum zweiten Mal.»
«Zugegeben, für eine Tote ist sie ganz schön umtriebig. Aber gerade deshalb habe ich meine Zweifel». Jeffrey wendet sich an Alma. «Du bist sicher, dass es Mona war, die du vorhin vor dem Kunstmuseum getroffen hast?»
«Wie meinst du das?», sagt Alma irritiert. «Ich werde doch noch meine beste Freundin wiedererkennen.»
«Die du seit 40 Jahren nicht mehr gesehen hast, im Halbdunkel, im Park.»
«Es war Mona. Ich bin mir hundert Prozent sicher.» Alma verschränkt die Arme. Ihr Mund presst die Lippen zu einem schmalen trotzigen Strich zusammen. «Glaubst du, ich bin verrückt. Mona mag einiges älter sein, aber ihre Stimme und ihre Art zu sprechen sind unverwechselbar.»
«Führen deine wenig konstruktiven Bemerkungen irgendwohin, Jeff?», schaltet sich Studer ein. «Wie wäre es, wenn sich der Herr Journalist zur Abwechslung mal mit den Fakten befassen würde, als irgendwelche wilden Vermutungen heraus zu posaunen.»
Jeffrey verzieht keine Miene, sein Seufzer verliert sich im Inneren seines Bauchraumes. Wenn sein Onkel so drauf ist, führen streitbare Repliken zu nichts. Er schüttelt zweimal den Kopf, als ob er das bereits Gesagte auf einem imaginären Bildschirm löschen will. «Nochmal von vorne: Drei Artefakte sind verschwunden: Der «Füdlistein» aus der Goldgasse, die Tonscherbe aus dem Blumenstein und der Kosciuszko aus dem Stadtpark.»
«Soweit sind wir uns einig», murmelt Studer knapp hörbar.
«Gut, und eure Freundin, diese Mona –»
«Sie ist nicht meine Freundin», ruft Studer dazwischen.
Jeffrey fährt unbeirrt fort. «Was auch immer. Ich frage mich Folgendes: Wenn sich Mona an Alma rächen will, weil sie damals in Bern von ihr im Stich gelassen wurde, weshalb lässt sie den Kosciuszko verschwinden?»
«Weshalb nicht?», fragte Alma. «Sie will mir als Stadtführerin schaden und trifft damit die Stadt.»
«Gut und schön, aber der Kosciuszko passt da nicht hinein.»
«Wie, er passt nicht hinein?»
«Er hat nichts mit Solothurn zu tun, ausser dass er ein paar Jahre hier gelebt hat, irgendwann zwischen 1814 bis zu seinem Tod 1817.»
«Ich bitte dich, immerhin war ein Kämpfer für die Freiheit der Menschen, nicht nur in seiner Heimat, auch im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Das passt doch zur freiheitlichen Tradition der Schweiz. Ausserdem wurde er vom Solothurner Peter Josef Zeltner nach Solothurn eingeladen, einem Vorkämpfer für die neue Ordnung nach dem Einmarsch der Franzosen und dem Zusammenbruch des Ancien Regime. Und immerhin war Zeltner als Solothurner der erste helvetische Gesandte in Frankreich.»
Jeffrey will etwas einwenden, doch Alma redet sich gerade warm. «Der liberale Zeltner und der Freiheitskämpfer Kosciuszko waren Symbole der neuen, freiheitlichen Schweiz.»
Jeffrey macht einen neuen Versuch, aber Alma verhinderte es, indem sie mit vorgestrecktem Zeigefinger und stechendem Blick einen Schritt auf ihn zumacht. «Und von wegen nichts mit Solothurn zu tun zu haben: Wusstest du, dass der Amthausplatz, bevor er seinen heutigen Namen erhielt, Kosciuszko-Platz hiess?»
«Ups», sagt Jeffrey baff. «Das wusste ich nicht.»
«Dachte ich mir, ist aber so, zwar nicht sehr lange, nämlich nur von 1867 bis 1869, aber immerhin.»
«Okay.» Jeffrey nickt anerkennend, bevor er seinen Kopf erneut zum Einspruch erhebt. «Trotzdem, mir ist das immer noch nicht klar. Was hat das mit Solothurn zu tun?»
Alma starrt ihn fassungslos an, und Studer verwirft die Hände.
«Sie hat es dir doch grade erklärt –», sagt Studer. «Es ging um den Freiheitskampf, um –»
Alma unterbricht den alten Kommissar mit erhobener Hand. Sie ist nachdenklich geworden. «Ich glaube, ich weiss, was Jeffrey meint. Kosziusko war ein Symbol für die neue liberale Schweiz. Das schliesst Solothurn mit ein, aber …»
Jeffrey nimmt den Faden auf. «… er ist nicht typisch für Solothurn. Der «Füdlistein» und die Tonscherbe hingegen sind Artefakte, die nur für Solothurn und seinen Charakter stehen. Die Tonscherbe für die Entstehung und der «Füdlistein» für die Eigensinnigkeit der Solothurner.»
«Und was heisst das jetzt?», sagt Studer mit müder Stimme.
Alma umarmt Jeffrey und drückt ihm einen Schmatzer auf die Wange. «Du bist grossartig, Jeff. Das Mona die Scherbe und «Füdlistein» verschwinden lässt, macht Sinn, wenn sie mir und durch mich der Stadt schaden. Aber der Kosciuszko …»
«… geht auf das Konto von Anderen», sagt Studer, der die Erleuchtung endlich gefunden zu haben scheint. «Es hat noch jemand seine Finger im Spiel. Fragt sich nur wer?»
Die drei sind dermassen in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht auf ihre Umgebung achten.
«Vielleicht kann ich helfen?»
Alma, Studer und Jeffrey fahren herum und starren direkt in Monas Gesicht. Die Verblüffung wird von Schock abgelöst, als sie die Pistole in ihrer Hand erblicken.
Teil 16 | Verschwörungstheorien
15. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Claudia Sollberger, Halten | Hans Fischer, Lüterkofen | Christine Künzler, Schüpfen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joëlle Harms, Selzach
«Weg mit der Waffe!» Alma ist die Erste, die sich vom Schock erholt und macht einen Schritt auf Mona zu. «Was soll das Mona? Was hat dich so verletzt oder traumatisiert, dass du nach 40 Jahren hier mit einer Waffe auftauchst und mich bedrohst?» Alma, Studer und Jeff schauen sich fassungslos an. «Waffe runter!» Studer geht zwischen die beiden Frauen, nimmt Mona die Waffe aus den Händen und schüttelt den Kopf. Mona grinst schelmisch, macht einen Schritt zurück und setzt sich auf einen Stein. «Was willst Du?», fragt Alma wieder und wieder. «Aufmerksamkeit? Geld?» Mona winkt ab. «Gerechtigkeit!».
Studer, Alma und Jeffrey setzen sich zu Mona, schweigen und schauen lange in die Ferne. Bis Studer ihr Schweigen unterbricht. «Damals in Bern was ist da vorgefallen? Bist du an diesem Abend zu weit gegangen und konntest nicht mehr zurück?» «Oder wurdest du gefangen gehalten?» Keine Antwort. Die Stimmung bleibt angespannt. Studers Gedanken drehen sich im Kreis. Wollte sie Alma glauben machen, sie sei tot, um sie für das, was in Bern passiert ist, zu bestrafen? «Bitte sprich mit uns, wir haben jahrelang nach dir gesucht, haben unzählige Male diese schreckliche Nacht in Bern Punkt für Punkt durchgespielt, haben tagelang an der Stelle bei der Lorrainebrücke ausgeharrt … und kamen immer und immer wieder zum Schluss, dass du lebst. Nur wo?» Mona schaut starr in eine Richtung, zeigt einen Anflug von Schwäche und sagt: «Ich war immer bei euch.»
Damals kursierten wilde Verschwörungstheorien in der Szene. Mona habe sich in Deutschland einer späten Gruppierung der RAF angeschlossen, sich während einer Gerichtsverhandlung in den Strafverteidiger und Vater eines Kollegen verliebt, ihn geheiratet und sei nun Erbin einer deutschen Warenhauskette. Die andere Geschichte gefiel Alma besser: Mona lebe in Kalifornien, sei eine der Assistentinnen von George Lucas und habe an den Star Wars Filmen mitgeschrieben. Studer glaubt weder an Verschwörungstheorien noch an das ganz grosse, blutige Drama damals in dieser Nacht. Er ist bis heute überzeugt, dass Mona weder traumatisiert noch verletzt war, sondern einfach genug von dieser hektischen Zeit, dieser ständigen Flucht und Spannung hatte. Und sich zurückzog. Sie war bekannt für ihre spektakulären Fluchtaktionen. Studer tippte immer auf Goa oder Ibiza.
«Wo warst du wirklich? Nachdem die Hodler-Bilder wieder zurückgebracht und Kuno und ich ans Aareufer gerufen wurden, als sich die Ereignisse überschlugen … Wo bist du hin?» Alma ist müde, all die Jahre voller Schuldgefühle sind nicht spurlos an ihr vorbeigegangen.
Nun mischt sich Jeffrey ein. Er, der in dieser Nacht nicht dabei, ja noch nicht einmal geboren war, bringt es auf den Punkt: «Mir ist egal, wo du warst, wen du geheiratet hast und ob du verdammt noch mal meine Lieblingsfilme mitgeschrieben hast! Ich will schlicht und einfach wissen, warum du unsere historischen Schätze zerstörst?»
Mona schaut Jeffrey triumphierend an. «Habt ihr wirklich das Gefühl, ich hätte diesen Stein, diese Skulptur und diese Scherbe geklaut und dann in irgend einem eurer so hoch gelobten Gewölbe versteckt?» Mona redet sich in Rage. «Habt ihr wirklich das Gefühl, ich sei so banal, verzweifelt und unkreativ?» «Was willst Du?» Fragt nun auch Studer sichtlich genervt. «Euch ein Tauschgeschäft vorschlagen: Alle Einnahmen der 2000-Jahre-Feier und ich verhindere Schlimmeres. Und ich will die Festrede halten! Ich kenne Solothurn besser, als ihr euch jemals vorstellen könnt.»
«Kommt, wir gehen in die Bar der La Couronne», schlägt Jeffrey vor. Alle vier gehen wortlos in Richtung Hauptgasse. Jeff bleibt stehen, hält Mona am Arm fest. «Aber die Facebook-Einträge, die gehen auf dein Konto … ganz dein Stil, dieses autonome Getue mit dem Unspunnenstein und dem ganzen Gedöns!»
«Du bist ein smarter Kerl, mein Kleiner.» Für Jeffrey tönen die Worte von Mona aber als eine Beleidigung. Jeffery hat recht.
Alma sitzt an der Bar, nicht wie üblich mit einem Glas Chardonnay Domaine du Soleure, sondern mit einem hochprozentigem Marc. Ihr gegenüber Jeffrey, der an einem Öufi-Bier nippt und Studer mit den Worten «ich bin im Dienst» einen Espresso trinkt. Mona, die keine andere Wahl hatte als mit den anderen mitzugehen, begnügt sich mit einem Glas Wasser.
Sie beobachtet die Szene aus Distanz, wie sie das seit Jahrzehnten tut. Mona ist dem Trio immer einen Schritt voraus, spielt seit 40 Jahren falsch. «Führt sie nun Regie?»
Teil 17| Heisse Spiele
16. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Claudia Sollberger, Halten | Hans Fischer, Lüterkofen | Christine Künzler, Schüpfen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joëlle Harms, Selzach
«Komm schon Alma, die blufft doch.» Studer ist ungeduldig. Die Nacht gestern hatte es in sich. Nicht nur, dass er weit nach Mitternacht nach Hause kam … Nein, er trank mit Alma die 40 Jahre weg, hatte nach dem Espresso zum Marc gewechselt und vergass dabei, dass sein Leben aus den Fugen geraten ist. «Ich erkenne beim besten Willen den Zusammenhang von Monas Aussagen nicht. Warum sollte sie die Ambassadorenstadt besser kennen als wir? Und vor allem was soll diese sinnfreie Idee mit der Festrede?»
Studers Stimme wird lauter und gereizter. Würde Alma nebenbei noch Post sortieren? Es raschelt unangenehm am Telefon. Alma scheint unkonzentriert. «Alma? Bist du noch dran? Ich erwarte bei dieser ernsthaften Sache deine volle Aufmerksamkeit! ». Alma räuspert sich und antwortet: «Ich befürchte eher, dass Mona die Spitze des Eisbergs ist. Die Drahtzieher operieren aus dem Untergrund. Vielleicht wird sie erpresst. In diesem ominösen Facebook-Post war von einem neuen Unspunnenstein die Rede …» Kuno Studer ist aufs Neue erstaunt und beeindruckt, wie scharf Almas Verstand ist. Einfach aus dem Nichts mischt sie die Karten neu auf. «Kannst du mir bitte alle Pläne auftreiben, auf denen die Solothurner Gewölbe eingezeichnet sind? «Und dann mein Lieber, ist es an der Zeit, den Berner Kollegen einen Besuch abzustatten!», fiel ihm Alma ins Wort.
Alma wird nervös, beendet das Gespräch mit Kuno abrupt und verabschiedet sich hastig. Tourismusdirektor Tom Seiffert hat sie schon x-mal versucht zu erreichen, hat ihr aufgebrachte Sprachnachrichten und ein schlechtes Gewissen hinterlassen. «Alma, wo steckst du denn? Seit einer Stunde versuche ich, dich zu erreichen. Hast du unseren Termin vergessen? Mit Stadtschreiber Huber, diesem von Burg vom Solothurn Journal und mit meiner Wenigkeit!»
Alma ist ausser sich. «Die Jubiläumsfeier!» Sie macht sich unverzüglich auf den Weg. Unterwegs kann sie trotz grosser Aufregung ihre Gedanken an den gestrigen Abend nicht unterdrücken. Monas Worte klingen nach: «Alles in einem Gewölbe versteckt …»
«Was wollte sie damit andeuten?» Mona liebt die Symbolik, liebt Verstecke mit grossem historischen Wert. Das war schon vor 40 Jahren so. Damals schlüpfte sie voller Inbrunst und zu unserem grossen Vergnügen gerne in die Rolle irgendwelcher mittelalterlichen Berufsleute. Alma sieht plötzlich diese alten Ausgrabungen vor sich, die sie mit Studer und Jeffrey gefunden hat: die Bäder. Vor allem der Bader, der für alle Verrichtungen in der Badstube zuständig war. Er, der als gewöhnlicher Handwerker einen tiefen Einblick in die Gesellschaft hatte. Die Solothurner badeten leidenschaftlich gerne und der Bader (heute ein Nachname) hatte alle Hände voll zu tun mit den Gästen, die er mit Birkenwedeln traktierte, zur Ader liess und Schröpfgläser ansetzte. Nicht zuletzt liebten die Solothurner den Weg ins Bad aber auch, weil es dort sprichwörtlich heiss zu und her ging. Weder Karten- noch Liebesspiele waren verpönt. Jedes «Badzimmer» besass sogar ein kleines Guckloch. Der Bader wusste über alles Bescheid… Alma ist sich sicher: «Dieser Charakter ist für Monas Spielchen perfekt. Jemand, der alles weiss, der beobachtet!»
Alma fasst klare Gedanken: «Die Tonscherbe ist wieder aufgetaucht; der Kopf von Kosciuszkos auch. Nur der Füdlistein und der Körper des polnischen Freiheitskämpfers bleiben gestohlen.» Almas Bauchgefühl sagt ihr, der Stein ist nicht bei den Bernern. «Nur welches Gewölbe hat Mona angesprochen? Ist es vielleicht gar kein Gewölbe, gar kein Bad? Und Mona wollte sie nur auf die falsche Fährte locken? Vielleicht ein unterirdischer Raum? Und wenn ja, welcher könnte dann als Versteck infrage kommen?»
Alma hat eine Idee. Bei der Peterskapelle, da gibt es diese Ausgrabungsstätte. Die Kapelle entstand auf der ehemaligen Grabstätte von Urs und Viktor, welche der Legende nach, als Märtyrer in Solothurn gestorben sind. «Wieder eine geniale Symbolik, ganz à la Mona.» Alma ist für einen Moment zufrieden mit sich. Dieser Raum ist zwar verschlossen und für die Öffentlichkeit ohne Begleitung nicht zugänglich. «Könnte da eventuell der Füdlistein versteckt sein?» Alma betritt ausser Atem das Büro des Tourismusdirektors. «Tom, ich muss dich zuerst unter vier Augen sprechen, wir haben ein Problem.» «Und ob wir ein Problem haben», schnaubt Seiffert aufgebracht. Alma geht auf Seifferts vorwurfsvolles Geräusch nicht ein, sondern doppelt nach. «Ich befürchte, dass wir vor unserem Meeting ein Problem lösen müssen.» Toms Blick wird immer verzweifelter. «Sag mal Tom, wer hält übrigens die Festrede an unserer 2000-Jahr Feier»? «Ich!», schnaubt ihr Gegenüber. Alma bewegt sich im Büro hin und her. «Passt das der Frau Stadtführerin vielleicht nicht?» «Doch Tom, das ist prima, gibt mir bitte den Schlüssel für die Peterskapelle.» «Im Schreibtisch», sagt Seiffert resigniert. Alma öffnet die Schublade … der Schlüssel ist weg!
Teil 18| Die Geköpften
17. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Claudia Sollberger, Halten | Hans Fischer, Lüterkofen | Christine Künzler, Schüpfen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joëlle Harms, Selzach
«Tom, ich muss nochmals kurz weg!» Alma packt hastig ihre Sachen. «Alma?! Verdammt noch mal ... du kannst doch nicht!» Und wie sie kann. Die Türe fällt ins Schloss und Seiffert hört nur noch ihre Schritte in der Ferne verhallen.
«Kuno? Können wir uns treffen?» «Hast du etwa wieder so ein Bauchgefühl?», witzelt Studer ungewöhnlich gut gelaunt. «Ich bin gerade auf einer Nachsuche im Revier. In zwei Stunden?» Alma verabredet sich mit Studer bei der Peterskapelle.
«Wo ist bloss dieser Schlüssel? Jelena hatte gestern eine Stadtführung und wollte die Kapelle mit der Gruppe besuchen.» Der Schlüssel hätte schon längst wieder im Tourismusbüro an Ort und Stelle sein müssen.
Alma hat ein ungutes Gefühl, muss ihre Emotionen aber zurückhalten. Eigentlich möchte sie losrennen, ihre Kollegin in den Gassen der Altstadt suchen und laut Jelenas Namen rufen. «Kuno wäre das peinlich», geht ihr durch den Kopf. Diese emotionale Seite, er nennt sie «hysterische Momente», mag er nicht. «Dieser alte Brummbär hat doch nur Angst.» Alma kneift verschmitzt die Augen zusammen und lächelt. Früher nannte Studer diese Momente Leidenschaft und konnte ihnen nicht widerstehen.
Alma ist mal wieder weit weg in Gedanken. Das Telefon holt sie zurück aus ihren Träumen. «Das ist das Ende, jetzt kann ich nichts mehr für euch tun!», schreit Jeffrey ins Telefon. «Für uns, Jeffrey, für uns. Wir sind ein Team.» «Dann eben für uns, ist doch scheissegal!» «Jeff, bitte beruhige dich, erzähl alles der Reihe nach, Punkt für Punkt.» Jeffrey erklärt, dass Chefredaktor von Burg genug von diesem Schmierentheater habe, dass er die Zügel selber in die Hände nehmen und von seinen hochrangigen Beziehungen Gebrauch machen wolle. «Und zu guter Letzt trifft er sich heute mit einer befreundeten Journalistin aus Bern, die dem Unspunnenstein seit dem Verschwinden am 20. August 2005 in Interlaken auf der Spur ist und selber schon ins Visier der Fahnder gerückt war.»
«Weisst du Jeff, mag sein, dass von Burg herausfindet, dass die historischen Gegenstände gestohlen wurden. Mag sein, dass er den Krimi-Trail entlarvt. Aber ganz ehrlich: so what!?» Jeffrey kann die gelassene Art von Alma nicht einordnen. «Schau, der Herr Chefredaktor kann doch nicht die ganze Stadt, die ganze 2000-Jahr-Feier in den Dreck ziehen. Was meinst du, woher die Inserate kommen? Und eines muss man von Burg lassen: Naiv ist er weiss Gott nicht!» Jeffrey murmelt kleinlaut, dass von Burg in der Tat kein Leichtgewicht sei, er ihn bewundere und dass er selber auch mal so richtig tief im Dreck wühlen wolle. Dann intoniert er ähnlich einem Schlachtruf «Ich zeig’s euch allen!» Und verabredet sich mit Alma bei der Peterskapelle.
Alma ist besorgt: Die Jubiläumsfeier rückt immer näher und die Festreden werden geschrieben. Tom Seiffert hatte ihr am Telefon mitgeteilt: «Die ganze Schweiz schaut auf uns. Mit unserem Award haben wir grosse nationale Medienpräsenz und tolle Aufmerksamkeit bekommen. Solothurn ist back on the map!». Alma weiss, diese Feier würde unvergesslich werden. So oder so.
Sie schlendert der Aare entlang. Das ist ihre Stadt. «Sie ist die Schönste der Schweiz», sagt sie immer mit einem Augenzwinkern auf ihren Stadtführungen. «Und nun, wie soll es weitergehen? Warum will Mona diese Jubiläumsrede halten? Was bezweckt sie damit? Wurde sie etwa angeheuert? Erpresst? Warum sagt sie, sie kenne Solothurn so gut?» Alma überlegt weiter: Oder geht es darum, zu verhindern, dass an der Feier ein Geheimnis über ihre Vergangenheit preisgegeben wird? Ist Mona möglicherweise Nachkomme einer Patrizierfamilie? Welche könnte das sein? Da gab es viele: von Besenval, von Sury, von Roll, Wagner, Gibelin, Schauenstein, von Vigier. Geht es darum, sie und ihre Vorfahren ins Zentrum zustellen.
Tom Seiffert erklärte letzte Woche, dass er in seiner Jubiläumsrede nebst der Vergangenheit auch das 19. Jahrhundert in den Fokus stellen würde. Steht Mona vielleicht in Verbindung mit einer ehemaligen Familie aus der Industriezeit?
«Was machen wir hier?», begrüsst Studer seinen Neffen Jeffrey bei der Peterskapelle und haucht Alma einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Alma zeigt auf die Tür: Der Kapellenschlüssel steckt im Schloss. «Wir fügen heute Kosciuszko's Kopf und Leib wieder zusammen», antwortet Alma und erklärt, dass die beiden Stadtheiligen Urs und Viktor damals von ansässigen Römern auch geköpft und anschliessend in die Aare geworfen wurden. Studer traut seinen Augen nicht: da liegt tatsächlich die kopflose Statue! «Jeffrey, jetzt hast du Fleisch am Knochen. Jetzt schreib deine Geschichte im Solothurn Journal», sagt Studer mit einem leicht spöttischen Unterton. Jeffrey lässt sich nicht provozieren. «Wenn ihr meint, ich schreibe, der Kosciuszko sei gestohlen und nun wieder gefunden worden, täuscht ihr euch!» Jetzt ist Jeffrey beleidigt. «Ich lüfte das ganz grosse Geheimnis!»
Teil 19| Interlaken mischt mit
18. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
Mitwirkende | Isabel Hunziker, Zuchwil | Claudia Sollberger, Halten | Hans Fischer, Lüterkofen | Christine Künzler, Schüpfen | Susanne Im Hof, Grenchen | Mathieu Im Hof, Grenchen | Joëlle Harms, Selzach
«Lassen Sie sich nichts erzählen. Von niemandem. Egal, wer was behauptet. Egal, wer was zu wissen glaubt. Niemand weiss genau, was geschehen ist, wer den ersten Gegenstand gestohlen hat. Wer den Füdlistein wegtransportiert hat. Wer die Scherbe aus dem Museum Blumenstein verschwinden liess. Und schon gar nicht, wer die Statue von Kościuszko in zwei Teile getrennt und an zwei historischen Plätzen versteckt hat.» «Ein genialer Einstieg!» Jeffrey ist mit sich und seinem Artikel zufrieden. Jetzt noch schnell zu von Burg.
«Jeff, schön geschrieben. Muss sagen, der Einstieg ist dir gelungen. Gut, vielleicht etwas pathetisch, aber ja …warum nicht, kann man so machen. Immerhin geht es ja um historische Stücke, gell du Historiker!» Chefredaktor Andreas A. von Burg steht auf und klopft Jeffrey wohlwollend auf die Schulter. «Kaffee?». Jeffrey nickt. Andreas von Burg stellt dem jungen Kollegen einen Espresso hin und spricht Klartext. «Der Artikel erscheint nicht, kein weiterer Kommentar.»
10 Minuten später hat Jeffrey nicht nur den Glauben an seinen Arbeitgeber, sondern auch in sich verloren. «Jeffrey Affolter, Kopf hoch», muntert ihn von Burg auf. «Was soll ich machen? Ist doch auch deine Stadt! Ist unser aller Erbe, unser Fundament! Und Jeff: vor allem dein Erbe! Nicht ich, du bist einer von ihnen!»
Wütend packt Jeffrey seine Sachen und geht in Richtung Aare. An der Kreuzackerbrücke steht Alma vor dem Palais Besenval und erklärt einer Gruppe die grosse Bedeutung dieses Bauwerks. «Das Palais ist nach den Gebrüdern Johann Viktor II. Besenval (1671–1736) und Peter Joseph Besenval (1675–1736) benannt, die das Bauwerk errichteten liessen. Ganz nach dem Vorbild französischer Stadthäuser des Adels. Nach dem Tod der Brüder Besenval 1736 ging das Palais an Peter Josephs Tochter Maria Johanna Margaritha Viktoria Besenval (1704–1793) über. Sie heiratete den späteren Schultheissen Franz Viktor Augustin von Roll (1700–1773), wodurch das Palais an die Familie von Roll gelangte.» Jeffrey winkt und geht hastig an ihr vorbei.
«Ich habe kein gutes Gefühl», sagt Alma etwas später zu Kuno auf ihrer Dachterrasse. Er verdreht die Augen. Alma lässt nicht locker. «Kuno, dein sogenannter Neffe ist mir suspekt.» «Er ist noch jung und ein Hitzkopf.» Studer setzt sich näher zu Alma und geniesst die Ruhe.
Er räuspert sich und setzt zur grossen Rede an. «Jeffrey ist ein Spross einer Patrizierfamilie!», sagt er bedeutungsvoll. «Und was daran soll aussergewöhnlich sein? Das ist in Solothurn nun wirklich keine Sensation.» Alma ist ungeduldig.
In diesem Moment läutet das Telefon, Tom Seiffert meldet sich mit überraschend freundlichen Worten: «Alma, schön hast du kurz Zeit für mich. Ich möchte dir meine Festrede vorlesen, ist mir wirklich gelungen.» Alma hört zu. «Tom, das tönt doch gut.» «Das war die Einleitung!», sagt Seiffert genervt und bestellt Alma zu sich ins Büro. «Beeil dich, ich treffe in einer Stunde von Burg zum Nachtessen. Wichtiges Interview.»
Alma bricht hektisch auf und sagt zu Studer. «Ich muss weg.»
In der Zwischenzeit hat Jeffrey mit der Alpen Zeitung Kontakt aufgenommen. Er ist zurück in der Redaktion, sitzt an seinem Computer und tippt. «Ein genialer Plan», schreibt Jeffrey seiner Kollegin in Interlaken. Doris lernte er am Seminar «Geschichte schreibt Geschichte» kennen und fand sie aufregend. Sie hatte ihn nicht wahrgenommen. Das soll sich ändern.
Interlaken und Solothurn werden die Titelseiten aller Schweizer Medien schmücken. Und Jeffrey würde als der grosse Enthüllungsjournalist gefeiert. Sein Herzklopfen ist heftig. Doris ist von seiner Geschichte beeindruckt.
In wenigen Minuten postet er den Facebook-Eintrag gleichzeitig mit seiner Berner Kollegin. Dann ist das Geheimnis des Füdlisteins Geschichte. Jeffrey hört ein Geräusch hinter sich, nimmt noch einen dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf wahr und …
«Jeff, hörst du mich?» Er öffnet seine Augen und sieht von Burg. «Was ist denn los mit dir?» «Ich weiss nicht, ich war an meinem Computer und wollte noch … » Beide schauen auf seinen Bildschirm, dort steht «So nicht! Ich verfolge dich auf Schritt und Tritt. Seit 15 Jahren.»
Jeffrey ist noch ganz benommen und versucht Studer zu erreichen. «Kuno, ich bin zu weit gegangen. Jetzt brauche ich deine und Almas Hilfe!»
Alma ist bei Tom Seiffert. «Du hast wirklich ein Talent, die Dinge auf den Punkt zu bringen», schmeichelt sie ihrem Chef. «Komm Alma, ich weiss, dass du die Rede schlecht findest.» Alma sagt, er habe eine viel bessere Rede verdient. «Tom, wenn du mich jetzt zwei Tage machen lässt, mir vertraust, dann kriegst du einen Text, der dich umhauen und unstreblich machen wird. «Hier schon mal ein erster Teil: Der Füdlistein ist gestohlen. Die Scherbe und der Kościuszko waren es auch.» Seiffert setzt sich hin. «Wir lösen für den Festakt den Fall auf und du wirst eine Rede halten, die Tausende hören wollen und werden. Livestream, Webcast. Tom du wirst ein Held!» Seiffert ist blass. «Alma, wenn das schief geht … !»
Teil 20| Zu viele lose Enden
20. April 2020 | Autor | Hansjörg Boll, Stadtschreiber der Stadt Solothurn

Hansjörg Boll, 63, ist seit Anfang 2004 Stadtschreiber in Solothurn und in dieser Funktion verantwortlich für die Feierlichkeiten zum 2000-Jahre-Jubiläum der Stadt. Der Ökonom war zuvor in verschiedenen Funktionen im Bankwesen auf dem Platz Solothurn tätig.
Nach seinem Interviewtermin bei von Burg tritt Seiffert gut gelaunt auf die Hauptgasse und entschliesst sich zu einem Abendspaziergang. Es bleibt ihm noch etwas Zeit. Vorbei an der St. Ursen-Kathedrale schlendert er über den Zeughausplatz. Er staunt immer wieder über den mächtigen Bau des Alten Zeughauses, das wie die Kathedrale etwas zu gross für die kleine Stadt ist. Touristisch gesehen zum Glück! Das Museum Altes Zeughaus ist für den «European Museum of the Year Award 2020», den wichtigsten Preis der Museumsbranche, nominiert. Er wird jährlich vom «European Museum Forum» an Museen vergeben, die innerhalb der letzten drei Jahre neu eröffnet oder signifikant erneuert worden sind. Sollte das Alte Zeughaus diesen Preis Anfang Mai erhalten, könnte Solothurn dieses Jahr neben dem Tourismus Award noch einen zweiten grossen Preis gewinnen.
Er schlendert durch den Stadtpark, vorbei an den Blumensträussen, an der Stelle, wo eigentlich die Kościuszko-Statue stehen sollte, dann am Muttiturm vorbei und über den Stalden zurück in die Hauptgasse. Als er in der Goldgasse den leeren Platz des «Füdlisteins» betrachtet, lächelt er zufrieden, spielt mit der Fussspitze mit einem losen Bsetzistein und freut sich. «Die Idee mit dem Krimi-Trail war einfach super!». Dann geht er zügig weiter, schliesslich hat er noch eine Verabredung.
Jeffrey findet keine Ruhe, was nicht nur an den zu vielen Espressi und dem Schlag auf den Hinterkopf liegt. Er wälzt zu viele Gedanken. Wäre Mona nicht so unvermittelt in dieser Geschichte aufgetaucht, er wäre immer noch der Meinung, dass die Entführung von Kościuszko nicht zu der verschwundenen Tonscherbe und zum fehlenden «Füdlistein» passt. Während er der Sonne zusieht, wie sie langsam hinter der Jurakette verschwindet, glaubt er sich plötzlich an etwas zu erinnern, das mit der Skulptur von Kościuszko und mit der Geschichte, wie sie nach Solothurn kam, zu tun hat. Vielleicht gibt es hinter diesem Versteckspiel in Solothurn eine weit grössere Geschichte als das Jubiläum der Stadt?
Zurück an seinem Arbeitsplatz findet er die Medienmitteilung aus dem Jahr 2017: Tadeusz Kościuszko wurde 1746 in Mereczowszczyzna geboren. Da diese Ortschaft damals zwar zu Polen-Litauen gehörte, heute jedoch in Weissrussland liegt, verehren auch die Weissrussen Kościuszko als ihren Nationalhelden. Aus diesem Grund schenkte die Belarussische Vereinigung in der Schweiz der Stadt Solothurn diese Statue zur Erinnerung an den Freiheitshelden. Jeffrey glaubt sich zu erinnern, dass dies damals zu diplomatischen Verstrickungen führte, weil sich nicht alle Polen über den «Heldendiebstahl» freuten. Und jetzt wurde er wieder gestohlen und, noch schlimmer, sein Kopf vom Körper getrennt. Auch wenn eine solche Geschichte mit politischen Verstrickungen sicher eine schöne Story für Jeffrey gegeben hätte, sie passte einfach nicht zu Mona und auch nicht zu den Ereignissen des heutigen Tages. Denn weder hätte es einen Grund gegeben, ihn wegen des vorgesehenen Facebook-Eintrags zum «Füdlistein» niederzuschlagen, noch sieht er einen Zusammenhang zur Mitteilung auf seinem Bildschirm, dass er seit 15 Jahren unter Beobachtung stehe.
Er beschliesst das Ganze zu vergessen und versucht Doris in Interlaken anzurufen. Vergeblich. Weder unter ihrer Handynummer noch im Büro wird der Anruf beantwortet. Lustlos durchsucht er das Zeitungsarchiv, speziell die Berichte aus dem Stadtressort. Und plötzlich ist er wieder hellwach. Eine Mitteilung von Stadtschreiber Huber aus dem Jahr 2016 eröffnet völlig neue Perspektiven: «Bei Leitungsarbeiten stiess man am Dienstag auf ein unterirdisches Gewölbe vor dem Baseltor. Nach erster Einschätzung der Denkmalpflege dürfte es sich um ein Reservoir aus oder nach der Zeit des Schanzenbaus im 17. Jahrhundert handeln.» Der Fund des Gewölbes von gut 25 Metern Länge war damals eine Sensation. Aus Kostengründen wurde es nicht touristisch nutzbar gemacht, sondern nach der Inventarisierung wieder verschlossen – mindestens vorläufig, wie damals bekannt gegeben wurde. Ja, dachte Jeffrey, dort würde ich den «Füdlistein» verstecken. Er entscheidet sich, diese Vermutung vorerst für sich zu behalten und sie erst morgen mit Alma und Kuno zu teilen.
Etwa gleichzeitig wie Jeffrey sein Büro verliess auch Kommissar Studer nochmals seine Wohnung. Er hatte mit Alma deren Angebot an Seiffert, ihm einen umwerfenden Text für die Festrede zu liefern, diskutiert, ohne dass sie wesentlich weitergekommen wären. An Schlaf war nicht zu denken, obwohl es gegen Mitternacht ging. Beim Überqueren der Wengibrücke sah Studer Tom Seiffert am Landhausquai in Begleitung einer Dame. Es war allerding zu dunkel, um die Person erkennen zu können. Doch Studer hätte schwören können, dass es Mona war.
Teil 21| Subtiler als gedacht
21. April 2020 | Autorin | Simone Leitner
«Mir ist egal, wie Sie mich in den Festakt integrieren, aber tun Sie es einfach!» Tom Seiffert nickt und zwingt sich zu einem Lächeln. Mona zu erklären, dass er über keine Entscheidungsbefugnis verfüge, die Federführung vielmehr bei Stadtschreiber Huber liege, wäre zu kompliziert geworden und hätte sie kaum beruhigt. «Frau Besenval, ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Sie hören von mir», beendet Seiffert das Gespräch und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht. Mona lächelt zufrieden. Es ist Mitternacht, sie geniesst das Geläut der St. Ursen-Kathedrale und erinnert sich an ihren Vater.
Anstelle von klassischen Märchen erzählte er seiner geliebten Tochter von der St. Ursen-Kathedrale. «Sie besitzt eines der bedeutendsten Barockgeläute Europas. Obwohl der historische Wert dieses elfstimmigen Ensembles mit seinen reich und individuell geschmückten Einzelglocken stets anerkannt wurde, drohte dem Glockenbestand in den frühen 1960er Jahren eine Teilzerstörung durch den willkürlichen Ersatz mehrerer Glocken. Das Projekt wurde glücklicherweise fallengelassen, doch waren in klanglicher Hinsicht tatsächlich Optimierungen wünschenswert.» Schön, hat ihr Vater die Restaurierung 2014 noch miterlebt. Vor sechs Jahren gelang es Experten, das Geläut dem denkmalpflegerischen Sinne entsprechend zu restaurieren und die klanglichen Mängel aus der Welt zu schaffen, ohne dabei Glocken zu ersetzen. Mona ist abgeschweift, sie vermisst ihren Vater jeden einzelnen Tag.
«Bis jetzt hat alles einwandfrei geklappt», flüstert sie am Telefon. Nur diese Geschichte, die ihr Seiffert erzählt hat, Jeffrey habe einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen: «Lächerlich! Nie und nimmer!», sagt sie belustigt. «Ich weiss, dass an dieser Geschichte ziemlich alles faul ist.» Auch diese absurde Drohung, die auf dem Bildschirm stand. Genauso wie Jeffreys Rolle als naiver und unbedarfter Journalist. «Der wahre Grund, warum Jeff nach Solothurn gekommen ist und als hochdekorierter Historiker von einer amerikanischen Eliteuni bei der Lokalzeitung einen Job angenommen hat, ist offenbar an Studer und Alma vorbeigegangen.» Mona setzt sich auf die Mauer, schaut in die schwarz anmutende Aare und findet sich mal wieder genial. Sie erinnert sich, lacht laut auf und sagt ins Smartphone: «Unverbesserlich die beiden Verliebten im Frühling 1980. Kuno und Alma, die immer und überall für Aufregung sorgten, sich prächtig verstanden und grosse Pläne hatten. Aber schlussendlich nicht den Mut fanden, sich für ein unkonventionelles Leben und vor allem für die Liebe zu entscheiden.» Studer, dieser leidenschaftliche junge Kriminalwissenschaftler, frisch von der Uni und voller Idealismus. Und Alma Müller, die schöne, sinnliche Frau, die kreativ denken und trotzdem analytisch beobachten konnte.Mona war immer etwas eifersüchtig auf sie, faszinierte doch Alma die Männer und vor allem Studer von der ersten Sekunde an. Was für ein begabtes und sehr glückliches Paar. Und nun sind sie sehr frustriert, ohne Leidenschaft, dafür offensichtlich voller Schuldgefühle.
Als Tourismusdirektor Seiffert vorhin Mona, «off the record» natürlich, wie er betonte, die Details über Jeffrey, über von Burg und den ausgezeichneten Krimi-Trail erzählte, lachte sie zum Erstaunen von Tom Seiffert lauthals und amüsierte sich köstlich. Natürlich war das alles nichts Neues für Mona, aber es war aufregend zu hören, wie gut sie in diesem nicht ganz einfachen Spiel Regie führt. Sie musste aber auch neidlos zugeben, dass Alma und Kuno noch immer ein kreatives und sehr kluges Duo abgeben. Immerhin, dieser Teil der Geschichte, dass sie schon einen Tag nach Verschwinden der historischen Gegenstände die richtige Spur aufnehmen würden, hat auch Mona erstaunt und nicht für möglich gehalten. Sie geht noch ein paar Schritte durch die Stadt und dann zurück in ihr Hotel. Schon bald würde sie kein Hotel mehr in Solothurn brauchen.
Es ist weit nach Mitternacht, Jeffrey geht beim Baseltor unruhig hin und her und untersucht jeden einzelnen Quadratzentimeter. «Hier muss doch eine Spur zu dieser Grabung und dem Füdlistein sein. Dieses Reservoir aus oder nach der Zeit des Schanzenbaus im 17. Jahrhundert ist bestimmt das Versteck, das spürt er ganz deutlich», pusht er sich selber. Er muss den Füdlistein vor Mona finden und wegtransportieren lassen.» Jeffrey war tief in seinen Gedanken versunken und noch tiefer mit dem ausschlaggebenden Hinweis am Boden beschäftigt, als er unvermittelt Worte hört: «Jeff, ganz alleine unterwegs? Hast du etwas verloren? Deine Genialität vielleicht?» Jeffrey Affolter dreht sich um.