Unheiliges Verschwinden 

Ein Gemeinschaftskrimi | Teil 22

Der Krimi | Teil 22

Mittwoch, 22. April 2020

Autorin | Simone Leitner 

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Simone Leitner

Unheiliges Verschwinden

«Hallo Andreas, so spät noch unterwegs?» Chefredaktor von Burg grinst. «Und du Jeff? Immer noch auf der Suche nach dem Füdlistein und der grossen Botschaft?» Von Burg ist weder an einer Antwort noch am weitern Geschehen interessiert und entfernt sich bestens gelaunt in Richtung Parkhaus. Jeffrey aber steht da wie angewurzelt, auf der Suche nach dem Füdlistein und nach Antworten. Er wollte diesen Solothurner Stein finden. Aber nicht, weil ihn die historische Leidenschaft treiben würde. Nein, bei ihm geht es um viel mehr: Es geht um seine Zukunft. Und seine Vergangenheit.

Der junge Historiker und Journalist ist wütend. «Warum nur habe ich mich auf diese abstruse Geschichte eingelassen? Ich bin zum Spielball uralter Geschichten geworden», ärgert sich Jeffrey. Er fühlt sich ausgenutzt und an der Nase herumgeführt. Er geht in seine Wohnung, um noch einige Stunden zu schlafen, bevor er in der Redaktion erwartet wird. Er hat diesen Job nur angenommen, um Solothurn kennenzulernen. Er wollte wissen, wo seine Mutter aufgewachsen war, wo sie ihre Kindheit, ihre ersten 20 Jahre verbracht hatte. «Aber das ist mir jetzt völlig egal. Ich brauche weder Geld, noch Wurzeln. Ich will nach Hause.»

«Doch wo ist mein zu Hause? Jetzt, wo sie nicht mehr lebt?» Jeffrey ist verzweifelt. Der wahre Grund seines Besuches verschwieg er. Auch die Botschaft, die er kurz nach der Beerdigung seiner Mutter erhalten hatte. «Komme nach Solothurn, lerne deine Familie kennen. Auch die deines Vaters», stand in einer E-Mail. «Seines Vaters!?» Jeffrey hatte doch mit André Affolter einen Vater.

Jeffrey erinnert sich an diesen Donnerstagabend am Hauptbahnhof in Solothurn: «Schön, dass wir dich endlich kennenlernen, hier ist der Schlüssel, du kannst gerne in einer unserer Wohnungen in der Altstadt wohnen», sagte sein Onkel. Kuno Studer hatte losen Kontakt zu seiner Schwester Dora in LA, mehr nicht. Er wusste zwar von Jeffrey und auch, dass ihr Mann André Affolter nicht sein biologischer Vater war. Das war ihm aber egal.

Jetzt scheint für Jeffrey alles bedeutungslos. Er hat weder den Füdlistein, noch Geld noch seinen Vater gefunden. «Zeit, nach Hause zu fliegen», schickt er seinem Onkel eine SMS. «Jeff, um Himmels willen, warum bist du um 3 Uhr morgens wach und willst nach Hause», antwortet Kuno Studer besorgt.

«Warum? Da fragst du noch?» Jeffrey bleiben die Worte im Hals stecken. «Kuno, ihr habt mich für eure Spielchen benutzt! Ich habe genug!» Jetzt hört Studer ein Schluchzen. «Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben … »

«Hör zu Jeff, die Geschichte ist kompliziert und aus den Fugen geraten! Aber glaub mir, wir sind auf der richtigen Spur. Bitte schlaf ein paar Stunden und dann treffen wir uns bei Alma zum Kaffee um 11 Uhr.»

«Ich muss arbeiten», sagt Jeffrey resigniert. «Von Burg übernehme ich. Mach dir keine Sorgen», entgegnet der altgediente Kommissar.

Tom Seiffert ist bereits beim zweiten Kaffee und summt. «Warum so früh am Morgen schon so fröhlich?» «Ach Alma, man muss einfach die kleinen Dinge im Leben geniessen!» «Ups, Glückskeks-Philosophien? Dafür ist es definitiv noch zu früh.» «Gut, dann komme ich zur Sache: Ich habe herausgefunden, wer diese Mar Besenval ist!»

«Wer bitte?», fragt Alma verdutzt. «Du weisst schon, diese schwerreiche Investorin, die diese Monstersiedlung «GreenSoul» baut. Dahinter steckt  Mar Besenval und sie wird, jetzt halt dich fest, sie wird Solothurn als erste «smarte Barockstadt» zum Schweizer Hotspot für Touristen, Unternehmer und designaffine Schöngeister machen. Alma schaut immer noch ungläubig zu Seiffert. «Du hast recht gehört. Und Sie wird an der 2000-Jahr-Feier auch eine Festrede halten!»

«Was? Diese Mar Besenval will eine Festrede halten? Wie kommst du darauf?» «Wie wohl?», fragt Tourismusdirektor Seiffert. «Sie hat bereits zugesagt. Ich sag dir, Alma, diese Frau hat richtig viel Geld. Und sieht sehr gut aus.»

«Super!», sagt Alma noch und ist weg.

Jeffrey und Studer kommen gemeinsam und pünktlich bei Alma an. «Kaffee?» Beide wundern sich etwas über die schlechte Laune von Alma.

«Ihr könnt euch nicht vorstellen …», setzt Alma an, doch Studer unterbricht sie. «Es ist so Alma, Jeff braucht Hilfe und gute Freunde. Bitte keine erfundenen Geschichten mehr.»

«Dann lass mich endlich ausreden, Studer!» Und wenn sie Studer zu Kuno sagt, dann ist es ernst. «Also», versucht es Alma erneut, «Mona ist bereits mit unserer Idee zu Seiffert und hat sich als Investorin vorgestellt. Er weiss, dass sie Mar Besenval ist!»

Jeffrey schreckt auf: «Was ist los? Warum soll ich den Füdlistein finden und wer ist Mar Besenval?»

«Ich bin Maria Johanna Besenval, kurz Mar», sagt Mona beim Eintreten und setzt sich an den Tisch. Studer und Alma nicken. Mona erzählt ihre Geschichte, eine lange Geschichte. Jeffrey stellt viele Fragen, Mona antwortet. Er weiss nun, dass Mona während der Zeit an der Uni und in der autonomen Szene in Bern den Namen Mona Bader angenommen hatte. Zum 20. Geburtstag bekam sie ein sehr beachtliches Erbe ausbezahlt, das sie auf Ibiza investiert hat – ins Café del Mar. Noch in der Nacht, als Alma sie in Bern tödlich verunglückt, dachte, flog sie nach Ibiza. Und ab der Eröffnung des Clubs im Juni 1980, nannte sie sich fortan Mar Besenval.

«Und was hat diese alte, verrückte Geschichte mit mir, mit dem Füdlistein und mit Solothurn zu tun?»

«Das erzählen wir dir später!», sagt Alma ungeduldig. «Jetzt müssen wir den Füdlistein sehen, bevor er wieder auf dem Sockel steht, sonst war alles umsonst.» «Komm Jeff, es lohnt sich. Vertrau uns», sagen Mona und Studer gleichzeitig.

«Ja klar, euch vertrauen!» Jeffrey schüttelt den Kopf, geht aber mit.

Vor zwei Jahren, als Mona alias Mar Besenval alias Maria Johanna Besenval mit einer grossen PR-Agentur in Zürich Kontakt aufnahm – das Café del Mar feiert 2020 das 40-jährige Bestehen und wird mit dem Dokumentarfilm am Filmfestival ausgezeichnet – traf Mona die Agenturchefin Frau Dr. Thalbach in Zürich. Sie sprachen auch über das neue PR-Mandat «2000 Jahre Solothurn» der Zürcher Agentur. Da Mona als Solothurnerin nicht nur viel über die Barockstadt wusste, sondern dort auch ein sehr ansehnliches Stück Landreserve aus ihrem Erbe überbauen wollte, war sie an der Agenturchefin interessiert. Thalbach erzählte ihr, dass sie einen Meilenstein setzen wolle. Marketingmässig fehle Solothurn nur wenig zum internationalen Durchbruch. Thalbach wolle Solothurn als einen Hotspot für die hippe «History Tour Community» positionieren. «Tolle Idee, Frau Thalbach, aber da brauchen Sie eine richtig gute Story! Einen genialen Plan. Die Stadt muss über Wochen in den Medien sein – ohne Negativschlagzeilen», meinte Mona und begeisterte Frau Dr. Thalbach. Und dann ist Mona zu alter Höchstform aufgelaufen.

Dr. Thalbach gegenüber sicherte sie ihre Hilfe in der PR-Sache zu. Mona ging es aber in erster Linie um das Geheimnis des Füdlisteins, um ihre Grossprojekt «GreenSoul» und damit um 200 Wohneinheiten mit der smartesten und ökologischsten Infrastruktur, die die Schweiz je gesehen hat.

Der Plan war simpel: Der Füdlistein, Kościuszko und die Scherbe sollten von Dr. Thalbachs Leuten weggeräumt, in einer leeren Halle aufbewahrt, restauriert und nach drei Wochen, wenn die Medienpräsenz ausreichend gross ist, wieder platziert werden – unter den Augen der Öffentlichkeit. Doch Mona’s Plan war subtiler: Sie wollte den Füdlistein einen Tag früher wegbringen lassen, um ans Geheimnis des Steins zu kommen. Als Mona kam, war der Füdlistein aber schon weg. Jemand musste vom geheimen Dokument, das im Stein versteckt ist, gewusst haben. Das konnte nur Studer oder Alma sein. Um die beiden aufzuschrecken, hat Mona ein Berner Blogger hacken lassen, den Facebook-Eintrag gepostet und schon ging alles viral.

Der Füdlistein war tatsächlich in Interlaken. Allerdings waren nicht Studer oder Alma die Schuldigen, sondern Frau Dr. Thalbach. Sie wollte noch mehr Aufmerksamkeit. Sie war gieriger und schlauer als Mona gedacht hatte, und ausserdem wollte sie auch Interlaken in ihr Kundenportfolio aufnehmen.

«Hier ist Frau Dr. Thalbach, sind sie in Solothurn Frau Besenval?. Wir liefern gleich den Stein. Wenn sie vielleicht anwesend sein könnten?» Und ob sie anwesend sein wollte! Als der Stein noch am Kran in der Schwebe hing, konnten Mona, Studer und Alma endlich den Schlüssel zum Schliessbach aus dem Boden des Steins  entfernen.

«Stehen alle Gegenstände wieder an Ort und Stelle?» «Ja», antwortet Dr. Thalbach Seiffert, «alles wie geplant! Sie können mit der Festrede beginnen!»

Er hält eine pointierte Rede, wird gefeiert und erscheint tags darauf mit Frau Dr. Thalbach in allen Zeitungen.

Nur Mar Besenval hat sich entschuldigt. «Wichtige geschäftliche Termine in Übersee!», lässt Seiffert ausrichten.

Und als sich Jeffrey, Alma und Studer mit Mona treffen wollten, um das Schliessfach zu öffnen, war sie schon wieder weg. Das Schliessfach war leer – und die mumifizierten Häupter der geköpften Stadtheiligen St. Viktor und Urs waren verschwunden.

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